Der Türke kommt!

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (30.04.2019)

Il Turco in Italia, 28.04.2019, Zürich

Das Zürcher Opernhaus zeigt Gioachino Rossinis «Il turco in Italia»: Mit Witz und Schärfe und einem Traum-Ensemble.

Genervt räumt die Frau das herumliegende Kinderspielzeug weg, der Mann sieht es nicht – er sitzt grad auf dem Sofa und blättert in der «Tierwelt». In der Wohnung nebenan packt derweil ein türkischer Neuzuzüger sein (identisches) Sofa aus dem Plastik, und in der Wohnung vis-à-vis sucht ein Dokfilmer die Inspiration im Alkohol. So geht Alltag in einem miefigen Miethaus, das derzeit auf der Zürcher Opernhaus-Bühne steht, und man weiss schon nach den ersten Minuten: Das wird ein guter Abend. Ein lustiger, kluger, hoch musikalischer. Ein böser auch, und ein liebevoller. Einer, nach dem man denkt: Besser lässt sich dieses Stück wohl nicht aufführen.

Das Stück, das ist Rossinis Komödie «Il turco in Italia» von 1814. Es geht darin um eine Frau, die beschliesst, dass ein Mann längst nicht genug sei. Um einen Türken, der ihr gerade recht kommt, aber leider auch noch anderweitig gebunden ist. Und um einen Dichter, der sich die ganze Geschichte ausdenkt.

Frühes Meta-Theater also, eine Persiflage auf die damalige Türkenmode. Und, vor allem: eine Steilvorlage für den Regisseur Jan Philipp Gloger, der Spass hat an dem ganzen Klamauk – und noch mehr am bitteren Ernst, der sich da und dort im Libretto verbirgt. «Stimmt es, dass die Türken so eifersüchtig sind?», fragt Fiorilla den eben eingezogenen Selim beim Flirt vor den Briefkästen. Und ihr Gatte Don Geronio donnert: «In meinem Haus will ich weder Türken noch Italiener!» Das kommt einem doch ziemlich bekannt vor.

Strickjacke vs. Trainerhose

Es ist eine enge Welt, die Gloger zeigt. Drei kleine Wohnungen, einen Gang und eine Wasch­küche hat ihm Ben Baur auf die Drehbühne gebaut, die zwischendrin so schnell rotiert, als wolle sie die Figuren aus ihrem Leben hinauskatapultieren. Dann wieder steht sie still, damit Don Narciso, Hauswart und ein weiterer Verehrer der Donna Fiorilla, seine Plakate an die Wand pappen kann. «Freiheit und Sicherheit» steht darauf, oder «Wollen wir das?», dazu ein Bild mit Kopftuchfrauen.

Auch das kommt einem ziemlich bekannt vor. Aber: Gloger ist klüger, differenzierter als die Verfasser solcher Plakate. Er ins­zeniert nicht mit dem Vorschlaghammer, sondern höchstens mit dem Spielzeughämmerchen, mit dem Don Geronio in einer grandiosen Männer-klären-ihre-Sicht-der-Dinge-Szene auf Selim losgeht. Er zeigt zwar deutlich, was er zeigen will. Aber er tut es mit bemerkenswerter Freundlichkeit.

Sie äussert sich unter anderem darin, dass Gloger seine Figuren – wie schon in seiner ähnlich geglückten Zürcher Inszenierung von Vivaldis «La verità in cimento» – nicht lächerlich macht. Er mag sie, er versteht sie: Don Geronio, den alten Polterer, der das Geschirr dann doch abräumt, wenn Fiorilla ihn nur scharf genug anschaut. Fiorilla selbst, die nicht die «Tierwelt» liest, sondern den Bestseller «Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen überall hin» – und sich dann bei der ersten Gelegenheit das Strickjäcklein aufknöpft. Und den Türken Selim natürlich, dem die Kostümbildnerin Karin Jud eine Trainerhose verpasst hat: ein grund­sympathischer Mensch, der sich trotzdem nicht zwischen seiner einstigen Geliebten Zaida und Fiorilla entscheiden kann.

Spätestens hier muss man nun vom Ensemble schwärmen, das in sechs Hauptpartien sechs Glückstreffer präsentiert. Julie Fuchs gibt ihr Debüt als Donna Fiorilla, als sei sie mit dieser Rolle aufgewachsen: So frei singt sie ihre Koloraturen, so grosszügig versprüht sie Charme und Gift, so hinreissend gibt sie die verbitterte Gattin wie die verführerische Nachbarin.

Schnell-Sprech-Rekorde

Ihr Nachbar ist Nahuel Di Pierro alias Selim, der nicht nur über einen tiefenentspannten, verblüffend beweglichen Bass verfügt, sondern auch über jenes Charisma und jene Ironie, die Fiorilla fasziniert – und Don Geronio irritiert. Sehr, sehr irritiert: Renato Girolami gibt den betrogenen, auch ein bisschen tumben Gatten mit Hingabe und markigem Bariton. Anders als Fuchs und Di Pierro gehört er nicht zu den Zürcher Stamm­gästen und Publikumslieblingen, aber er wurde am Ende genauso heftig bejubelt: Denn die Chemie zwischen den dreien stimmt auf überaus explosive Weise.

Auch Rebeca Olvera (als Zaida), Pietro Spagnoli (als Filmer und Erfinder der Geschichte) und Edgardo Rocha (als Don Nar­ciso) holen aus ihren Partien heraus, was drinsteckt – mit temporeicher Unterstützung des Dirigenten Enrique Mazzola, der die Sänger immer wieder zu Schnell-Sprech-Rekorden drängt, dabei aber genau spürt, wie weit er gehen kann.

Auch das macht diese Auf­führung aus: dass die Musik zu ihrem Recht kommt. Mazzola weiss, wie man die typischen Rossini-Turbulenzen eskalieren lässt, eilige Sechzehntel gestaltet, echte von gespielten Gefühlen trennt. Die Philharmonia Zürich spielt vif und vergnügt unter seiner Leitung, auch mal beseelt, wenn die Partitur es erlaubt; ohne Tiefsinn zu behaupten, wo keiner ist.

So hält das Orchester die Mechanik am Laufen, die auch das Bühnengeschehen bestimmt. Mühelos greift alles ineinander (wobei die Inspizientin hinter der Bühne, die dafür sorgen muss, dass sich alle im richtigen Moment an der richtigen Stelle treffen respektive verpassen, ins Schwitzen kommen dürfte). Auch der Chor mischt und prügelt hoch motiviert mit. Und klar, der Stuhl, den der Filmer hingestellt hat, weil eine Ohnmacht fällig wäre, wird irgendwann tatsächlich gebraucht. Die Pointen sitzen, und sie überraschen – jene von Rossini wie jene von Gloger.

Das Happy End muss dann sehr brüsk hingebogen werden, aber das macht nichts: Es ist ja nur ein Einfall eines mittelmässigen Filmers, der die wieder vereinten Paare auf ihren Sofas rasch hinter einer Leinwand verschwinden lässt. Denn nun wird der Film gezeigt, den er an diesem Abend gedreht hat, und dieser Film – aber nein, das verraten wir jetzt nicht. Hingehen, selber schauen: Es lohnt sich.