Das «Material Girl» bleibt in der Vergangenheit

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (09.04.2019)

Manon, 07.04.2019, Zürich

Am Zürcher Opernhaus feierte Jules Massenets Erfolgsstück «Manon» Premiere: Mit einem starken Liebespaar, schönen Bildern – und einem ziemlich musealen Blick auf das Geschehen.

Es gibt gute Gründe, um Massenets «Manon» auf die Bühne zu bringen. Einer davon heisst Piotr Beczala: Wer ihn für die Rolle des Chevalier des Grieux gewinnen kann, hat das Ass in der Hand, ganz ohne zu schummeln.

Und ein Joker kam dazu: Als das Zürcher Opernhaus die französisch-dänische Sopranistin Elsa Dreisig als Beczalas Bühnenpartnerin buchte, begann sie eben erst aufzufallen. Mittlerweile gehört die 28-Jährige zu den gefragtesten Jungsängerinnen, ihr Rollendebüt als Manon kommt exakt im richtigen Moment. Man könnte es Spielerglück nennen. Oder visionäre Planung.

Aber so wie der lästige Guillot de Morfontaine den Liebenden im vierten Akt ihr Glücksspiel vermasselt, so will es an diesem Abend auch mit dem Opernglück nicht so richtig klappen. Denn selbst mit idealen Karten braucht es sehr geschickte Spieler, um bei diesem 1884 uraufgeführten Stück zu gewinnen.

Hüter der Familienehre

Der Dirigent Marco Armiliato wäre so einer, zweifellos. Er hat die «Manon» schon an den Salzburger Festspielen dirigiert, an der Wiener Staatsoper und der New Yorker Met. Und er weiss, was zu tun ist, wenn sich Massenets Partitur mal wieder in einem Refrain festhakt: Kontraste schaffen, Farben variieren.

Armiliato lockt die Musikerinnen und Musiker der Philharmonia Zürich in berückenden Soli aus der Reserve und putscht sie dann wieder auf zum fulminanten Tutti. Auch die Balance stimmt, in den opulenten Chorszenen wie in den intimen Momenten. Dass die Spannung im Laufe der gut drei Stunden dennoch immer wieder abflaut, liegt vor allem daran, dass der Dirigent sie unbedingt aufrechterhalten will. Auch aufrechterhalten muss – weil das Bühnengeschehen nicht viel mehr liefert als schöne Bilder.

Sehr schöne Bilder, zugegeben. Die Ausstatterin Dieuweke van Reij hat die Belle Epoque auf die Bühne gezaubert, mit einem Einheitsraum, der glamourös wirken kann oder auch auf pittoreske Weise ärmlich. Die Kostüme, die Frisuren, der Kronleuchter, die Möbel: wie aus dem Museum.

Das ist nun allerdings das Problem der Aufführung, denn auch das Stück selbst wirkt in vielerlei Hinsicht museal. Die Figur der Manon ist zwar zeitlos; wäre sie später erfunden worden, würde sie mit Marilyn Monroe «Diamonds Are a Girl’s Best Friend» singen, oder Madonnas «Material Girl» oder Cindy Laupers «Girls Just Want to Have Fun». Der holländische Regisseur Floris Visser vergleicht sie im Opernhaus-Magazin mit einem It-Girl, durchaus zu Recht.

Aber die Gesellschaft, in der sich dieses It-Girl bewegt, die bleibt in seiner Inszenierung dekorative Vergangenheit. Dass da eine junge Frau ins Kloster geschickt wird, weil sie sich ein bisschen zu gern vergnügt – das ist halt so. Dass des Grieux ihr den Traum vom weissen Häuschen vorträumt, der definitiv nicht ihrer ist: rührend. Dass er seinerseits Priester werden will, nachdem sie ihn versetzt hat, weil der Luxus lockte – warum nicht? Der Talar steht ihm gut.

Da muss man auch den Begriff der Familienehre, der in diesem Stück so wichtig ist, nicht hinterfragen. Cousin Lescaut (Yuriy Yurchuk) darf die Manon in prächtiger Gardisten-Uniform an ihre Pflichten erinnern, bevor er sich wieder seinem Lotterleben widmet. Der Vater des Chevalier des Grieux (Alastair Miles) weist den Junior mit bebendem Spitzbart auf seine Schande hin, «die wächst und sich auch auf mich überträgt». Und die beiden Sugardaddys, der erfolgreiche de Brétigny (Marc Scoffoni) und der erfolglose de Morfontaine (Eric Huchet), sind höchstens lächerlich.

Ein gezielter Schuss Kälte

Das ist umso bedauerlicher, als die beiden Protagonisten mehr zu bieten hätten: mehr als schöne Stimmen, mehr als die üblichen Gesten von Leidenschaft und Verzweiflung. Mehr, als die oft statische Gediegenheit dieser Inszenierung zulässt.

Piotr Beczala gibt einen grundanständigen, leicht entflammbaren des Grieux, dem man auf der Bühne selbst das glaubt, was bei der Lektüre des Librettos Stirnrunzeln verursacht. Die masslose Liebe zu Manon; die Sturheit, mit der er an dieser Liebe festhält; die Naivität, mit der er alles übersieht, was gegen sein Glück spricht: Beczala vermittelt all das mit glühendem Tenor, den er in jedem Ton kontrolliert, ohne dass es je nach Kontrolle klingen würde.

Auch Elsa Dreisig hat ihre helle, schlanke Stimme im Griff – und dazu den Mut, die Zwiespältigkeit der Manon zu forcieren. Wenn sie im ersten Akt von einer Stimmung in die nächste kippt, könnte man glatt ein Borderlinesyndrom diagnostizieren. Ihre Liebe, ihre Vergnügungssucht, ihre Reue: Da ist immer ein Tick zu viel oder zu wenig. Ein gezielter Schuss Kälte ist in ihrem Gesang, auch in ihrer Mimik. Nur im Abschiedslied an den kleinen Tisch, den sie mit des Grieux geteilt hat, hört man echte Sehnsucht nach etwas, das ausserhalb ihrer Reichweite liegt.

Am Ende stirbt sie, betrauert von des Grieux und – zusammen mit diesem – bejubelt vom Premierenpublikum, das dann aber auffallend rasch zu den Garderoben eilt. Weil es zwar zwei wirklich gute Gründe gab, diese «Manon» auf den Spielplan zu setzen. Aber nicht mehr.