Wir töpfern uns eine Oper

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (25.09.2018)

Die Gezeichneten, 23.09.2018, Zürich

Mit den «Gezeichneten» von Franz Schreker startet das Opernhaus Zürich mutig in die neue Spielzeit. Doch weder die Regie von Barrie Kosky noch der Dirigent Vladimir Jurowski lassen sich tiefer auf das komplexe Stück ein.

Das geschundene Kunstwerk beisst zurück. So geschieht es im dritten Akt von Franz Schrekers Oper «Die Gezeichneten», mit der das Opernhaus Zürich am Sonntag seine neue Spielzeit eröffnete. Die nackte Kreatur, dieser malträtierte Haufen Fleisch ohne Hände, blutüberströmt und besudelt mit Lehm und allem Unrat dieser Welt, durchtrennt ihrem Nebenbuhler, dem Kraftmenschen Tamare, mit scharfem Biss die Kehle. In diesem Moment ist der gequälte Mensch nicht mehr bloss Zerrbild, nicht mehr nur jene vom Textbuch beschworene Karikatur vom buckligen Narren mit der Fiedel, der zur Kirchweih aufspielen muss – Alviano Salvago, einst Schöpfer und Bewahrer des Schönen, Wahren, Guten, entpuppt sich als etwas weit Schlimmeres: Der Feingeist ist zum Monster geworden, zum Golem, der endgültig ausser Kontrolle gerät.

Diese krude Entlarvung ist ganz wesentlich das Werk der Malerin Carlotta, die «ein Opfer heischt», wie sie schon im ersten Akt in einem kaum beachteten Moment offenbart: ein Bein, einen Arm, mindestens, fordert sie von dem Mann, der sie begehrt – am besten aber gleich die ganze Seele. Denn auf die Seelendarstellung, dieses heikelste und flüchtigste aller Sujets, hat sich die Künstlerin spezialisiert. In Zürich allerdings malt Carlotta nicht – sie töpfert. Auch sonst ist vieles anders an diesem Abend, den Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin und europaweit in beängstigender Frequenz tätiger Regisseur, mit gewohntem Furor in Szene gesetzt hat. Das Ergebnis hat mit Schrekers Schlüsselwerk von 1918, einem der am ärgsten von der Geschichte geschundenen Stücke der Opernliteratur, freilich nur noch am Rande zu tun.

Kürzungswut

Dies beginnt mit der in Zürich gespielten Fassung des gross besetzten Dreiakters, der ehedem eines der Erfolgsstücke der Weimarer Republik war, bevor die Nationalsozialisten Schrekers sinkenden Stern endgültig zum Verlöschen brachten. Für ihre eigentlich verdienstvolle Neuproduktion haben Kosky und der Dirigent Vladimir Jurowski derart hemmungslos in der Partitur gewütet, dass von ursprünglich fast drei Stunden Musik am Ende mehr als dreissig Minuten dem Rotstift zum Opfer gefallen sind, darunter komplette Szenen und ganze Rollen sowie eine wichtige Nebenhandlung, die das komplexe Geschehen um die drei Hauptfiguren Alviano, Carlotta und Tamare in entschieden anderes Licht rücken würde.

Mit viel Wohlwollen könnte man solche Eingriffe vielleicht noch als – notwendige? – Anpassungen eines sperrigen Werks an die Theaterpraxis rechtfertigen. Doch die Art und Weise, wie hier in den Noten geholzt wurde, lässt am Willen der Beteiligten zu jeglicher künstlerischer Einfühlung zweifeln. Schon das grandiose zehnminütige Vorspiel, in dem Schreker zentrale Momente der nachfolgenden Handlung wie in einem Gemälde collagiert hat, ist übel verstümmelt – man stelle sich einen derartigen Eingriff beim etwa gleich langen «Parsifal»-Vorspiel vor! Der Schluss wird zweieinhalb Stunden später am Ende der Oper nachgeliefert, obschon Schreker diesen Rückbezug selbst viel intelligenter und organischer komponiert hat. Dazwischen gibt es anstelle subtiler Übergänge und der seinerzeit hochmodernen Episodendramaturgie regelmässig plumpe Generalpausen, wo wieder einmal eine Passage der Kürzungswut des Produktionsteams geopfert wurde.

Man muss nicht das heikle Schlagwort von der Texttreue bemühen, um zu erkennen, dass hier eine Grenze überschritten wurde: Solche Rigorosität hat kein Komponist verdient. Erst recht nicht ein so gründlich seiner eigenen Wirkungsgeschichte beraubter wie Schreker, dessen zuerst verfemtes, dann jahrzehntelang als überholt gebrandmarktes Bühnenschaffen erst seit einigen Jahren allmählich in die Opernhäuser zurückkehrt. Es wirft zudem ein bedenkliches Licht auf den Dirigenten Jurowski, der als designierter Nachfolger Kirill Petrenkos im Amt des Generalmusikdirektors der Bayerischen Staatsoper ab 2021 dem für kühne Regiekonzepte bekannten Intendanten Serge Dorny weit mehr Eigengewicht und ein Beharren auf künstlerischer Integrität entgegensetzen müsste, soll die Musik dort nicht, wie hier, gründlich unter die Räder kommen.

Nosferatu-Hände

Hinter all den ärgerlichen Eingriffen steht offenkundig ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bühnenwirksamkeit von Schrekers wie immer selbst verfasstem, seinerzeit aus vielerlei Stoffquellen amalgamiertem Handlungsentwurf. Kosky weist in einem klugen Programmheft-Interview selber darauf hin, wie vieles darin einen frappierenden Bezug zu unserer eigenen Gegenwart aufweist – etwa der prekäre Status eines in höchstem Idealismus geschaffenen Kunstwerks, in diesem Fall Alvianos künstliches Eiland «Elysium», das von der schnöden Wirklichkeit depraviert und gegen seinen Schöpfer gewendet wird. In der Realität der Zürcher Bühne (Entwurf: Rufus Didwiszus) ist davon allerdings lediglich eine museale Ansammlung von Statuen übrig geblieben – und eine Töpferscheibe, die permanent kreist.

Auf ihr drehen sich nicht nur die Gipsabgüsse diverser Canova-Büsten, sondern irgendwann auch der kunstsinnige Alviano selbst. Er ist hier kein buckliger Wiedergänger Rigolettos, sondern mit zwei Armstümpfen geschlagen, die ihn zum hilflosen Krüppel machen. Zu den stärkeren Momenten des Abends gehört daher die Szene im zweiten Akt, als Carlotta aus einem Klumpen Lehm zwei langfingerige Hände hervorzieht, die Alviano im expressionistischen Licht von Franck Evin in einen zweiten Max Schreck verwandeln. Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm-Meisterwerk «Nosferatu» wurde zwar erst vier Jahre nach Schrekers Oper uraufgeführt; aber immerhin ist hier ein Bestreben der Regie erkennbar, tiefer in den zeittypischen Subtext und den Beziehungsreichtum von Schrekers Libretto einzudringen.

Eindringliches Rollenporträt

Der Rest wirkt dagegen über weite Strecken konventionell arrangiert und bricht die für Schrekers spätromantische Ästhetik so zentrale Idee einer Verzauberung aller Sinne herunter auf ein banales Kulissentheater. Das könnte einen gewissen Spannungsreiz entwickeln, hielte Jurowski mit entsprechender Klangmagie dagegen. Doch nach den viel zu lauten, mit arg breitem Pinsel dirigierten ersten beiden Akten, die mehr als einmal die Akustik des Zürcher Hauses überfordern, findet der Dirigent erst im dritten Aufzug zu etwas mehr Ruhe und impressionistischer Feinzeichnung. Ein angemessen subtiler Zugang zur stilistischen Bandbreite und zum überfeinerten Sensualismus von Schrekers Tonsprache ist gleichwohl nicht seine Sache, zu wenig abgestuft, zu opak tönen die einzelnen Orchestergruppen der Philharmonia.

Dies zwingt leider auch die teilweise vorzüglichen Sänger immer wieder zum Forcieren und lässt ihnen buchstäblich zu wenig Atem, ihre Rollen parallel zum Regiekonzept auch aus der Musik heraus stimmig zu entwickeln. So bleibt Catherine Naglestad bei der von Kosky erdachten Wandlung der herzkranken Malerin Carlotta zur Femme fatale auf halber Strecke stecken und rettet sich in eine für sie typische gläserne Kühle. John Daszak stürzt sich mit umso mehr Hingabe in die Partie des geschundenen Alviano und wird für sein eindringliches Rollenporträt zu Recht am Ende gefeiert; er zahlt dafür freilich den hohen, für die Stimme auf Dauer gefährlichen Preis extrem offener, teilweise fast geschriener Spitzentöne.

Solider klingt Thomas J. Mayer als Tamare, den die Regie allerdings auf den üblichen Bariton-Bösewicht reduziert. Stark auch der Podestà von Albert Pesendorfer und der schillernde Herzog von Christopher Purves, deren Rollenfunktion gleichwohl unterbelichtet bleibt. Fatal wirkt dies bei der Gruppe der Genueser Adligen, die das «Elysium» laut Libretto für einen organisierten Frauenraub und wilde Orgien missbrauchen. Antony McDonald hatte sie vor einem Jahr am Theater St. Gallen stimmig als nietzschegläubige Burschenschafter gezeichnet – hier verläuft dieser wichtige Handlungsstrang, auch wegen der unsinnigen Striche, irgendwann im Sande. Das rächt sich – Schrekers misshandeltes Kunstwerk beisst zurück.