Schwarz sehen – farbig hören

Anna Kardos, Aargauer Zeitung (06.03.2018)

Lunea, 04.03.2018, Zürich

Oper In Zürich feierte Heinz Holligers Musiktheater «Lunea» Uraufführung

So dunkel war Oper selten. Die Bühne liegt in fahlem Licht, die Partitur im tiefen Register. Die Reise ins Herz der Finsternis beginnt. Es ist auch eine Reise ins Herz von Nikolaus Lenau, dem gefeierten Lyriker der Biedermeierzeit, der 42-Jährig einen Schlaganfall erleidet und sich nie davon erholt. Denn der «Riss durch mein Gesicht», wie er den Schlag bezeichnet, wird für Lenau zur Wahnvorstellung. Freunde, die geliebte Freundin Sophie, seine ehemaligen Verlobten, sie alle stehen ihm bei, doch an ihn heran kommt keiner. «Ach – ich – ch...», singt der Chor der phänomenalen Basler Madrigalisten. Genauso wispert und flüstert es wohl auch in Lenaus Kopf.

Den Kampf hörbar machen

Von diesem inneren Kampf erzählt das Musiktheater «Lunea», das am Sonntag in der Oper Zürich uraufgeführt wurde (Libretto: Klaus Händl). Bilder aus Lenaus Leben reihen sich da an einander, auf der Bühne allesamt in tiefes Anthrazit getaucht. Als Zuschauerin tut man sich ob dieser Finsternis zunächst etwas schwer mit der Orientierung. Doch während nachts bekanntlich alle Katzen grau sind, gewöhnen sich die Augen hier ans Dunkel der Bühne (die Ohren haben es dabei mit Heinz Holligers vielschichtiger Musik ohnehin einfacher) – und schärfen den Blick für die musikalisch-szenischen Grafiken mit all ihren Feinschattierungen.

Ausgehend vom «Riss» durchs Leben werden Bilder von verflossenen sowie heimlichen Lieben beschworen, das Bestreiten einer Vaterschaft, emotionale Entsagung, Hoffen auf Heilung und schliesslich: ein langsames Verlöschen. «Herz» würde sich an diesem Abend also bestens auf «Schmerz» reimen, aber Heinz Holliger ist kein Mann der Offensichtlichkeiten. Vielmehr horcht der 79-jährige Komponist hinein in die Worte und findet hinter deren Sinn immer auch Klang: «sch – sch – gidlusch» raunt der Chor unheilvoll, als Lenau seiner einstigen Geliebten und dem vielleicht gemeinsamen Kind begegnet. Die Buchstabenfolge ergibt rückwärts gelesen «schuldig».

Organisch wie ein Baum

Dass man dies beim Hören ahnt, bevor mans weiss, ist das kompositorische Geheimnis von Heinz Holliger, der tief schwelende Blasinstrumente traumwandlerisch mit aufblitzender Perkussion, einer leidenschaftlichen Geige (wunderbar: Hanna Weinmeister) oder Stimmen (strahlend: Sarah Maria Sun, ausdrucksvoll: Juliane Banse) mischt. «Man muss zeitgenössische Musik nicht verstehen, man muss sie fühlen», hatte er im Gespräch mit dieser Zeitung gesagt.

Wer «Lunea» hört, weiss, was er meint. Holligers Musik findet ihren Weg statt nur in den Kopf des Publikums auch unter dessen Haut. Das mag unter anderem am grossartigen Bariton Christian Gerhaher (Lenau) liegen, der jeden Ton mit Leben – und sogar Irrsinn mit Sinn füllt. Es mag aber auch daran liegen, dass die Musik organisch erscheint. Mit einer Selbstverständlichkeit, mit der die Äste eines Baumes zur Krone heranwachsen, fügen sich die Rhythmen hier zu Klanggebilden. Man würde dahinter kaum minutiöse kompositorische Feinarbeit vermuten, wenn man nicht wüsste, dass seit Holligers letzten Oper «Schneewittchen» zwanzig Jahre vergangen sind.

Minutiös und hochästhetisch glänzt auch die Inszenierung von Opernhaus-Intendant Andreas Homoki – sofern im monochromen Schwarz-Grau von Bühne (Frank Philipp Schlössmann) und Kostümen (Klaus Bruns) überhaupt von Glänzen die Rede sein kann. Dass sich «Lunea» mit seinen multiplen Figuren und der zerborstenen Zeitebene jeglicher theatraler Form zu entziehen scheint, nimmt die Inszenierung als selbstverständlich an. Dafür zeigt sie auf, wie unselbstverständlich viel anderes war.

Kriechen mit Krinoline

Sie lässt verzweifelte Fräuleins in Krinolinen herum kriechen, bei aller Zerrüttung die Zapfenlocken lustig wippen und erwartungsvoll einen schwarzen Lehnsessel als gesellschaftskonforme Version eines Totenbetts herum stehen (im 19. Jahrhundert starb man im Lehnsessel). Anhand dieser Irritationen prallen gesellschaftliche Form und private Gefühle aufeinander. Ob Lenau an dieser Unvereinbarkeit von Gesellschaftsform und Leben litt – und zerbrach? In seinen Gedichten jedenfalls schaffte er es, beides zu verbinden: «Ich habe meine Augen mit Unglück gewaschen und nun einen schärferen Blick», dichtete er. Ein wenig gilt das auch für das begeisterte Publikum dieses Abends.