Wahn mit Sinn

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (06.03.2018)

Lunea, 04.03.2018, Zürich

Bei Heinz Holligers neue Oper «Lunea» entscheidet zwischen Wahn und Sinn allein die Musik

Das Werk des Schweizer Komponisten entwirft das eindrucksvolle Psychogramm des angeblich verrückten Dichters Nikolaus Lenau – eine Paraderolle für den Bariton Christian Gerhaher am Opernhaus Zürich.

Sein letzter Gedanke gilt den Bienen. Sie verwandelten die Blumen der Wiese in das Wachs, das auf den Altären als Kerzen leuchte: «Transsubstantiatio florum per apes in ceram», spricht der Dichter, bevor er für immer verstummt. Ist das Hellsicht oder schlicht Nonsens? Ahnt da einer gar das fatale Insektensterben unserer Tage voraus? Oder sind es die vom Wahn getrübten Worte eines Menschen, dessen Geist die Schwelle zur Umnachtung endgültig überschritten hat? In Heinz Holligers neuem Musiktheater «Lunea», das am Sonntagabend in Zürich seine mit viel Zustimmung aufgenommene Uraufführung erlebte, lernt man, in einem eigentümlichen Schwebezustand zu leben.

Denn wenig, was während dieser neunzig ohne Pause durchlaufenden Minuten von der Bühne des Opernhauses dringt, ergibt vordergründig einen Sinn – keinen jedenfalls, der mit unserem gewohnten Instrumentarium der Ratio und des Intellekts zu fassen wäre. Stattdessen hören wir Sätze von entwaffnender Schönheit, etwa diesen: «Ich habe meine Augen mit Unglück gewaschen und nun einen schärferen Blick.» Oder jenen, der am Ende der Aufführung in einer Projektion und im Kopf des Zuschauers noch lange nachglüht: «Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit.» Das hat Kraft, entfaltet auf den zweiten Blick sogar eine gewisse Sinnhaftigkeit – und stimmt doch zutiefst nachdenklich: Sind dies alles doch Worte eines Menschen, den die Mit- und Nachwelt für «wahnsinnig» hielt.

Klangvolles Bestiarium

Genau darum geht es Holliger in seinem zweiten abendfüllenden Bühnenwerk nach der Robert-Walser-Oper «Schneewittchen», die 1998, ebenfalls in Zürich, uraufgeführt wurde. Mit «Lunea» fügt der führende Schweizer Komponist der Gegenwart seiner über die Jahre mit hohem geistigem Anspruch entwickelten Sammlung (vermeintlich) «Irrer» und «verrückter» Künstler eine besonders schillernde Figur hinzu.

Die Namen der Insassen in diesem «Bestiarium» sind klangvoll: Mit Robert Schumann hat sich Holliger beschäftigt, dem Poeten unter den Komponisten, der seine Tage in der Nervenheilanstalt zu Endenich beschloss; stets aufs Neue mit Hölderlin, einem Fixstern in Holligers geistigem Universum, der sich, laut neueren Forschungen, womöglich bloss in den Wahn (und seinen Tübinger Narrenturm) geflüchtet hat; mit Walser und mit den Künstlern Louis Soutter und Adolf Wölfli, die ihre Kunst, zumindest in den Augen der Betrachter, aus einem Zustand jenseits des «Normalen» schöpften. Und nun also mit Nikolaus Lenau, dem Enfant terrible des Biedermeier, der 1844 einen Schlaganfall mit halbseitiger Gesichtslähmung und offenbar schwerwiegenden hirnorganischen Schäden erlitt, der aber weiterhin schrieb und dichtete, bis ihn der körperliche Niedergang zum Verstummen brachte.

Aus all den wundersamen «Zetteln», die Lenau in den Jahren bis zu seinem Tod 1850 mit Eingebungen, teilweise autobiografischen Reflexionen und Sinnsprüchen vollschrieb, hat Heinz Holliger schon 2009/10 einen später auch für kleines Ensemble orchestrierten Zyklus von 23 Gesängen geschaffen, den der Bariton Christian Gerhaher 2013 zur Uraufführung brachte. Diese formal bewusst offen gehaltenen «Lebensblätter» mit dem Titel «Lunea», die zuletzt sehr eindringlich am Lucerne Festival 2017 zu erleben waren, wurden ihrerseits zur Keimzelle für die gleichnamige, aber rund dreimal so lange Oper, die jetzt in Zürich erstmals erklang.

Für Christian Gerhaher

Mehr noch als der Liederzyklus ist die Oper ein multiperspektivisch angelegter Versuch, den «verrückten» Dichter vor der Nachwelt zu rehabilitieren und namentlich bei seinen späten Äusserungen das Verdikt des «Wahnsinns» mit Nachdruck zu hinterfragen. Dies gelingt der Oper eindrucksvoll – zwar nicht in dem Sinne, dass man Lenau und seinen wilden Versen am Ende Normalität im klinischen Sinne zugestehen wollte. Aber in dem viel weiter führenden, geradezu aufklärerischen Sinne, dass es eine Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit der Sprache (und manchmal auch des Lebens) jenseits des rational Begreifbaren und Kommensurablen gibt.

Die stärksten Momente des Werkes und der vom Zürcher Opernintendanten Andreas Homoki inszenierten Aufführung sind denn auch jene, in denen dieser oft ein wenig surreal wirkende Schwebezustand zwischen Wahn und Sinn in all seiner so bizarren wie beredten Schönheit ausgekostet wird. Es sind überwiegend Passagen, in denen die ursprünglichen «Lunea»-Lieder als Material in die Opernpartitur eingeflossen sind. Hier kann Christian Gerhaher, dem Holliger schon die Lieder in extrem fordernder, aber gleichzeitig besonders einfühlsamer Weise «in die Stimme» komponierte, seine ganze Sensibilität im Umgang mit feinsten Sprachnuancen ausspielen und sein schier unbegrenztes Spektrum an klanglich-dynamischen Abstufungen in der Tongebung zur Geltung bringen.

Problematischer erscheint die szenische Verknüpfung dieser überwiegend monologischen Stellen, die bisweilen von zwölf «inneren Stimmen» (den vorzüglichen Basler Madrigalisten, einstudiert von Raphael Immoos) begleitet werden, mit realen Figuren und Schlüsselmomenten aus Lenaus Biografie. Holliger und sein Librettist, der opernerfahrene Theaterautor Händl Klaus, verfolgen hier ein ähnliches Konzept wie Peter Ruzicka, der in seinen drei Bühnenwerken «Celan», «Hölderlin» und «Benjamin», das Anfang Juni in Hamburg zur Uraufführung gelangt, die geistig-philosophische Auseinandersetzung mit dem titelgebenden Autor jeweils assoziativ mit biografischen Stationen verknüpft.

Die von Holliger intendierte «Traumdramaturgie» seiner Oper, also der Verzicht auf eine chronologische Abfolge der Szenen, und das ausschliesslich aus Lenau-Texten montierte Libretto verhindern hier allerdings eine wirkliche Profilierung der Nebenrollen – was angesichts der eindrucksvollen sängerischen Leistungen von Juliane Banse (als Lenaus Herzensfreundin Sophie) und Sarah Maria Sun (in wechselnden Rollen als deren Gegenspielerin) bedauerlich ist. Auch das Wirken der weiteren Spiegelfiguren Lenaus, seiner Schwester Therese (Annette Schönmüller) und ihres Mannes Anton Schurz (Ivan Ludlow), wird nur nach intensivem Studium des Textbuchs verständlich, nicht aber – was entscheidend wäre – rein theatralisch.