Auch das Fallen will gelernt sein

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (06.02.2018)

Idomeneo, Rè di Creta, 04.02.2018, Zürich

Jetske Mijnssen inszeniert, Giovanni Antonini dirigiert Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo» am Opernhaus Zürich

In der Gastronomie bedeuten Sterne hohe Bewertungen, im Theater stehen sie dagegen oft für Rollendebüts. Auf dem Besetzungszettel der jüngsten Zürcher Opernpremiere waren die Namen der meisten Hauptdarsteller von Mozarts Opera seria «Idomeneo» (1781) mit einem Sternchen versehen. Da waren also nicht Routiniers am Werk, die den Kreterkönig Idomeneo oder dessen Sohn Idamantes schon an mehreren Häusern in unterschiedlichen Inszenierungen gesungen und gespielt haben, sondern lauter Neulinge.

Das ist allemal ein Risiko, was in der Premiere am Sonntag denn auch deutlich zu hören war. Joseph Kaiser in der Titelpartie kämpfte spürbar mit den Koloraturen, seine im romantischen Repertoire so solide verankerte Stimme klang oft grobkörnig und angestrengt. Die Mezzosopranistin Anne Stéphany in der Hosenrolle des Idamante sang differenziert, aber – etwa im Quartett des dritten Aktes – nicht mit der erforderlichen Durchschlagskraft. Dem Tenor Airam Hernandez als Arbace fehlte das tiefe Register, und die junge Hanna-Elisabeth Müller gab die trojanische Prinzessin Ilia mit gut sitzendem, aber reichlich scharfem Sopran. Als Elektra brillierte Guanqun Yu – die Chinesin war die einzige Nicht-Debütantin in der erlauchten Runde der Opernhaus-Sänger.

Vor dem Orchester La Scintilla thronte wie ein Feldherr der Dirigent Giovanni Antonini, sonst meist mit dem Kammerorchester Basel oder seinem «Giardino armonico» unterwegs. In Zürich versucht er, sich ausgerechnet im Kernrepertoire des unvergessenen Nikolaus Harnoncourt zu profilieren. Da kann man fast nur verlieren, und Antoninis Dirigat wirkte denn auch bei allen klanglichen Schönheiten der historischen Instrumente kantig und spannungsarm. Die chorischen Aufgaben bewältigte der Zürcher Opernchor unter Ernst Raffelsberger mit Anstand.

Die Farbe des Betons

Bühnenbild und Inszenierung sind einem kalten Minimalismus verpflichtet. Betongraue Wände und eine oben offene graue Decke umgeben die rechteckige Spielfläche (Bühne: Gideon Davey). Tische und Stühle kommen nur höchst sparsam zum Einsatz. Keine optischen Tricks, keine farbliche Symbolik und keine modischen Videos peppen die tragische Konstellation – der aus einem Meeressturm errettete König Idomeneo muss seinen Sohn Idamantes opfern – auf.

Die Konzentration aufs Wesentliche, und das ist der Gesang und das Spiel der Protagonisten, wirkt sympathisch. Indes hat dieser Minimalismus auch seine Kehrseite. Er kommt nur dann zur Wirkung, wenn die Personenführung so ausgefeilt und ausdrucksstark ist, dass sich daraus ein Gewinn für die Figurenzeichnung ergibt. Auf der Zürcher Bühne bieten sich dem Auge des Betrachters in einigen Ensembleszenen hübsche Personen-Arrangements, aber sie wirken selten mehr als nur dekorativ.

Da es ausser in einer kurzen Szene im zweiten Akt keine Stühle oder sonstigen Sitzgelegenheiten gibt, spielt sich das Ganze auf dem Boden ab. Der Chor der Kriegsflüchtlinge robbt immer wieder stereotyp vom Bühnenhintergrund nach vorn, die Hauptpersonen üben sich im Bodenturnen, sitzen, knien oder liegen häufig auf der Spielfläche, wenn sie nicht in wenig glaubwürdiger Manier zu Boden gleiten. Verständlich, dass sich kein Opernsänger wehtun will, aber das Fallen ist nun einmal eine höchst anspruchsvolle Art der Bewegung, und daran hat die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen in Zürich zu wenig intensiv gearbeitet.

Die ewige Knarre

Hinzu kommen zweifelhafte Details, mit denen die Regisseurin ihre Grundidee der radikalen Reduktion dann doch verrät. Elektra schleppt immer eine Handtasche mit sich, was ihr etwas unangemessen Tantenhaftes verleiht. Ilia trippelt auf Stöckelschuhen über die Bühne, als wäre sie eine Sekretärin am Betriebsfest. Und König Idomeneo hat während seiner Odyssee durch das stürmische Meer offenbar seine silberglänzende Pistole – Marke Heckler & Koch Antiqua – gerettet und fuchtelt unentwegt mit ihr rum, wenn sie nicht gerade in die Hände von Ilia oder Idamante gerät.

Wenigstens geht das teuflische Ding nie los, denn eine Stimme aus dem Jenseits enthebt Idomeneo gerade noch rechtzeitig seiner Verpflichtung zum Sohnesmord, und der alte Monarch darf in Rente gehen. Uns Opernbesuchern aber bleibt so die grösste Peinlichkeit einer gut erdachten, aber letzten Endes nicht eben schlüssigen Inszenierung erspart.