Endlich verstehen wir die Butterfly

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (12.12.2017)

Madama Butterfly, 10.12.2017, Zürich

Regisseur Ted Huffman zeigt Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» am Zürcher Opernhaus so, wie das Stück einst gedacht war: Als tödliches amouröses Missverständnis zwischen Amerika und Japan.

Drei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man auf den Liebsten wartet. Und auch zehn Minuten können eine kleine Ewigkeit bedeuten, wenn man jemandem beim Warten zuschauen muss. Aber nicht hier, nicht in dieser «Madama Butterfly». Da sehen wir die wartende Cio-Cio-San – und verstehen sie endlich.

Nicht, weil sie etwas besonders Aufschlussreiches tun würde. Sondern, weil sie wirklich nichts anderes tut als warten. Sie sitzt da. Dreht sich mal um nach ihrem schlafenden Kind. Hält Ausschau, ob das Schiff im Hafen angekommen ist. Setzt sich wieder hin. Kein Wort, kein Ton. Nur das Orchester erzählt von ihren Ängsten, ihren Hoffnungen, ihrer Müdigkeit – in jenem ellenlangen Zwischenspiel, das eigentlich als Ouvertüre eines dritten Teils gedacht war, den Puccini bei der Überarbeitung seiner Oper vom zweiten Akt abgespalten hatte.

«America Forever!»

Heute wird das Stück meist (und auch in Zürich) wieder in der originalen Zweiteiligkeit gegeben, das aktionsfreie Zwischenspiel wird damit zum Prüfstein für jeden Regisseur. Der Amerikaner Ted Huffman, der erstmals am Opernhaus inszeniert, hat ihn weder aus dem Weg geräumt noch dekoriert. Überhaupt nimmt er die Oper als das, was sie ist. Da passiert praktisch nichts auf der Bühne, was nicht im Libretto stehen würde. Und es passiert alles, was im Libretto steht.

Das bedeutet nun aber nicht, dass ihm nichts eingefallen wäre. Mit altmodischem Ausstattungstheater hat das, was Huffman auf die Bühne bringt, genauso wenig zu tun wie mit Regietheater. Es ist eine ganz eigene Ästhetik, die er entwickelt hat für das Stück – und in der er das Stück entwickelt, auf behutsame, ebenso schlichte wie bilderstarke Weise.

Zunächst ist da nur ein blendend weisser, leerer Raum (Bühne: Michael Levine). Möbel werden hereingetragen, amerikanische Möbel: Der Marineoffizier Pinkerton kommt an in Japan und mit ihm – mit seinen Vornamen Benjamin Franklin, seinem Schiff namens Lincoln und ein paar Tönen aus der Nationalhymne – die amerikanische Sicht auf die Welt. «America Forever!» singt dieser Pinkerton, mitten in einer italienischen Oper: Auch damit zeigt er seinen Machtanspruch. Dass er sich dann tatsächlich in diese 15-jährige Cio-Cio-San alias Butterfly verliebt, die er sich als Braut auf Zeit gekauft hat: Das war zwar nicht vorgesehen. Aber das Problem wird sich lösen lassen.

Es wäre leicht, da tagesaktuelle Anspielungen zu machen. Weit schwieriger ist es, sie wegzulassen, ohne dass man sie vermisst: Huffman schafft es. Er schafft es sogar, dass man diesen Pinkterton ein wenig versteht, seine Leichtfertigkeit, seine Abenteuerlust. Er ist zwar ein Trampel, ein oberflächlicher Geck, der gar nicht merkt, wie fremd er ist in diesem Japan; aber böse ist er nicht.

Und er singt wunderbar: Der albanische Tenor Saimir Pirgu, der hier sein Debüt als Pinkerton gibt, hat alles, was es für diese Figur in dieser Inszenierung braucht. Ein herzliches Strahlen und eine strahlende Höhe, das Klangvolumen eines Eroberers und einen souveränen Umgang mit den Farben der Verführung. Dass die Philharmonia Zürich unter Daniele Rustioni nicht nur prägnant und farbintensiv spielt, sondern zwischendrin auch sehr laut, braucht ihn nicht zu kümmern: Er ist lauter, ohne jede Anstrengung. Aber er kann auch leise, schliesslich will er Butterfly nicht erschrecken. Er will sie nur haben.

Diese Butterfly, das ist die Russin Svetlana Aksenova, die einst im Basler Ensemble sang und nun erstmals auf der Zürcher Bühne steht. 2010 wurde sie in der Kritikerumfrage der Zeitschrift «Opernwelt» für ihre Darstellung der Butterfly zur Nachwuchssängerin des Jahres gewählt, und im ersten Akt weiss man noch nicht genau, warum; reserviert wirkt sie hier, ihr Vibrato will nicht recht passen zu einer 15-Jährigen.

Grosse Musik für eine Psychose

Ihr Akt, das ist dann der zweite, der traurige: mit der elenden Warterei auf Pinkerton, der nach Amerika abgereist ist. Mit der Liebe zum Kind, von dem er nichts weiss, und der Härte gegenüber allen, die an seiner Rückkehr zu zweifeln wagen. Aksenova gestaltet dieses Leiden diskret, ohne dramatischen Druck, das macht es nur noch schlimmer – also besser. Es drückt einem das Herz ab, wie sie sich in ihre Hoffnungen hineinsteigert, wie sie das längst Verlorene mit ein paar Takten amerikanischer Nationalhymne und einem westlichen Kleid (Annemarie Woods) wieder herbeizwingen will. Klinisch müsste man wohl von einer Psychose sprechen; musikalisch von einem grossen Moment.

Auch das hat wieder viel mit dieser Inszenierung zu tun, die das Schicksal der Butterfly nicht für szenische Effekte ausnutzt, sondern geradezu fürsorglich begleitet. Mit einer Dienerin Suzuki (Judith Schmid), die so ist und singt, wie Butterfly es braucht. Mit dem Heiratsvermittler Goro (Martin Zysset), der bei allem Zynismus irgendwann doch auch merkt, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Und vor allem mit Brian Mulligan als Konsul Sharpless, der hier zu einer dritten Hauptfigur wird: einer sympathischen, differenzierten, ganz und gar authentisch verzweifelnden. Wenn er auf dem (amerikanischen) Sofa hin- und herrutscht und immer wieder erfolglos versucht, Butterfly die Wahrheit zu sagen, tut er einem fast so leid wie Butterfly selbst. Er hat das Drama ja kommen sehen – und kann nichts tun, um es zu verhindern.

Das wurde ja oft und durchaus zu Recht als Makel kritisiert: dass diese Oper so absehbar und klischeefreudig ist (schon wieder eine Sopranistin, die sich am Ende umbringt). Auch der Vorwurf der Tränendrüsendrückerei ist nicht falsch: Musste es denn wirklich sein, dass Butterfly am Ende auch noch das Kind an Pinkerton und seine neue amerikanische Gattin abgeben muss? Hier wird klar, warum sie muss, warum sie gar keine andere Wahl hat, warum auch Puccini keine andere Wahl hatte. Und es ist nicht kitschig, sondern herzergreifend traurig.