Sommerfest mit Marmelade und einem Toten

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (26.09.2017)

Eugen Onegin, 24.09.2017, Zürich

Am Opernhaus Zürich erzählt Barrie Kosky in Tschaikowskys Seelendrama «Jewgeni Onegin» die Geschichte einer Ernüchterung

Alles könnte so schön sein. Eine Lichtung im grünen, grünen Wald – hohes Gras, wohin das Auge blickt, und einige plauschige Ecken unter den mächtigen Bäumen ringsum locken zu mancherlei Vergnügung. Ein bilderbuchprächtiges, hoch atmosphärisches Naturwunder hat die Ausstatterin Rebecca Ringst für die Produktion von Peter Tschaikowskys «Jewgeni Onegin» an der Komischen Oper Berlin entworfen. Bei der Übernahme ans koproduzierende Opernhaus Zürich wirkte die Idylle jetzt, wegen der schmaleren Bühne, sogar ein wenig übermächtig, etwas zu bilderbuchschön, jedenfalls irgendwie falsch. Doch das dürfte im Sinne der Erfinder gewesen sein, denn idyllisch geht es auf dieser Waldlichtung ganz und gar nicht zu.

Wer mit dem Geschehen von Tschaikowskys «lyrischen Szenen» nach dem Versepos von Alexander Puschkin vertraut ist, weiss schon im ersten Moment: Hier werden sich Seelendramen abspielen, und eigentlich genügte dafür eine schwarze, leere Bühne. Diesen Weg hat der Regisseur Barrie Kosky 2016 bei seiner preisgekrönten Inszenierung von Verdis «Macbeth» in Zürich tatsächlich beschritten. Um sich nicht zu wiederholen, gibt es diesmal einen Wald, freilich mehr als Zugeständnis an das Auge – die stärksten Momente dieser vom Publikum einhellig akklamierten Aufführung spielen sich immer noch im Innern der Figuren ab.

Die «gute alte Zeit»

Kosky räumt dafür alles russische Kolorit beiseite und zeigt uns schlicht: ein Sommerfest, irgendwo auf dem Lande. Dass er en passant auch alle historischen Bezüge kappt und den – sehr engagierten – Hauschor wie auch die Protagonisten in zeitlos-moderner, ein bisschen biederer Sonntagsausflugskleidung (Kostüme: Klaus Bruns) präsentiert, passt ins Konzept. Es nimmt den Charakteren aber die Eleganz und die literarische Tiefenperspektive, die in dieser Puschkin-Adaption kongenial bewahrt ist.

Kosky konzentriert sich stattdessen ganz auf den Zusammenprall von Gefühl und Realität – es ist das alte und doch immer neue Lied von hochfliegenden Träumen und ihrer schmerzlichen Entzauberung. Dazu braucht es wahrhaftig keine Paradeuniformen und keine Roben aus der Zarenzeit; die festlich-repräsentative Seite des Werks, die als Kontrapunkt zu den inneren Vorgängen fungiert, bleibt so indes, namentlich in den grossen Ballszenen des zweiten und des dritten Aktes, etwas unterbelichtet. Umso mehr Licht werfen Kosky und der Lichtgestalter Franck Evin auf die Gestalten des Titelhelden und der unglücklich in ihn verliebten Tatjana. Und zwar wortwörtlich: Mehrmals tritt zunächst Tatjana und am Schluss auch Onegin für einen Augenblick der Selbsterkenntnis gleichsam aus dem Geschehen heraus in einen vereinzelten Lichtkegel, so gleissend hell, als könne man auf diese Weise direkt bis in ihre Seelen leuchten.

Olga Bezsmertna, die der Tatjana bei ihrem Zürcher Debüt vor allem im Lyrischen und Leisen, weniger in den etwas scharf klingenden Ausbrüchen ein ansprechendes sängerisches Profil gibt, vermittelt den grundlegenden Zwiespalt ihrer Rolle auch darstellerisch eindringlich: Immer wieder flieht Tatjana von der ausgelassenen Fête im Wald zu ihren Büchern; in ihrer zentralen Briefszene schreibt sie ihre glühenden Bekenntnisse nicht selbst, sondern collagiert sie mit fahrigen, nervösen Bewegungen aus Lieblingsstellen ihrer Lektüre. Die literarische Zettelsammlung übersendet sie dann dem Mann ihrer Träume in einem leeren Marmeladenglas, dem an Schlüsselstellen wiederkehrenden Symbol der «guten alten Zeit».

Die Zitate im Glas stammen vermutlich von Puschkin. Die Zuflucht zur Weltliteratur kann Tatjana allerdings nicht vor der Desillusionierung bewahren: Der seltsame Fremde, dem sie gleich auf den ersten Blick verfallen ist wie Isolde dem Tristan, vermag seinem literarischen Pendant nicht im mindesten zu entsprechen. Dieser Onegin ist selbst ein Zerrissener, Suchender, beileibe kein Draufgänger und Lebemann wie Don Giovanni, womöglich gar ein ewiger Junggeselle, der genauso hochfliegenden Träumen nachhängt wie Tatjana.

Der rollenerfahrene Peter Mattei, zuletzt als eindringlicher Posa im «Don Carlo» in Zürich zu hören, verkörpert dies mit einer eigentümlichen Mischung aus schlaksiger Nonchalance und gespieltem Ennui, gewürzt indes mit reichlich Lebensbitterkeit. Intensiver als menschliche Beziehungen pflegt dieser Sonderling seine Tics, wedelt nach imaginierten Fliegen – und wedelt mit lässiger Hand auch Tatjana samt ihrem Liebesgeständnis weg wie ein lästiges Insekt. Störe meine Kreise nicht, lautet die vordergründig mit Vernunftargumenten garnierte Botschaft seiner Absage an die Beschämte; doch im Innern dieses Menschen herrschen selbst Scham und tiefer Schmerz über die eigene Leere.

Mattei spielt und singt dies in jeder Hinsicht souverän, mit einem breiten, auch dynamisch abgestuften Spektrum an Farben. Freilich kann auch er nicht verhindern, dass der Titelheld – ein dramaturgisches Grundproblem der Oper – nach und nach unsympathisch wird. So ist man eben doch versucht, Onegin die stolze Absage Tatjanas zu gönnen, die im letzten Akt ein solides, wenngleich leidenschaftsloses Leben an der Seite des Fürsten Gremin (profund und milde: Christoph Fischesser) gefunden hat. «Das Glück war so nah», singen beide noch, wie zufällig in Betrachtung der besagten Marmelade – doch für das Glück gibt es keine zweite Chance.

Duell hinter der Szene

Zum Sympathieträger wird auch in der Zürcher Produktion einmal mehr der Dichter Lenski, mit ungekünsteltem Gefühl und Mut zu bezaubernd leisen Tönen gesungen von Pavol Breslik. Ihm steht in Ksenia Dudnikova eine stimmlich hochinteressante Mezzosopranistin als Olga zur Seite. Das Duell zwischen Lenski und Onegin – die kaum in die Gegenwart zu übersetzende Peripetie des Dramas – verlegt Kosky kühn ins Dunkel hinter die Baumreihen; stattdessen zeigt er Tatjana, allein auf der Bühne, wie sie angesichts der vor ihren Augen eskalierenden, völlig sinnentleerten Auseinandersetzung zwischen den zwei Streithähnen den letzten Glauben an die Welt und die Liebe verliert.

Stanislav Kochanovsky, der 2016 bereits Tschaikowskys «Pique Dame» am Opernhaus dirigierte, untermalt diese Geschichte einer Ernüchterung mit anfangs etwas verhaltenen, dann immer leidenschaftlicher (und lauter) ausbrechenden Klängen. Mit den Einsätzen holpert es, vielleicht ferienbedingt, bei der Philharmonia noch etwas. Doch wenn später die Holzbläser in kammermusikalische Dialoge mit den Stimmen auf der Bühne treten, entwickelt sich ein Leuchten im Klang und mit ihm ein Gefühl für jene namenlose Sehnsucht, die den Figuren so gründlich abhandengekommen ist.