Lichtgestalt - und Kinderschänder

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (09.05.2017)

Der feurige Engel, 07.05.2017, Zürich

Nichts für schwache Nerven: «Der feurige Engel» von Sergei Prokofjew wird erstmals am Opernhaus Zürich aufgeführt

Zwei sensationelle Hauptdarsteller, eine schlüssige Regie und eine packende musikalische Realisierung machen die Zürcher Erstaufführung von Sergei Prokofjews selten gespielter Oper «Der feurige Engel» zum Ereignis.

Vielleicht ist es nur eine gewöhnliche Dreiecksgeschichte. Im ersten Bild des zweiten Akts wirbt Ruprecht um Renata, doch sie lässt ihn abblitzen – sie wartet auf einen anderen. «Kannst du dich etwa messen mit meinem Heinrich?», singt sie. «Sein engelsgleiches Antlitz – und dein Allerweltsgesicht!», fügt sie böse an. Im Orchester erklingt dazu eine expressive Musik. Plötzlich kippt die Stimmung, die Klänge im Orchestergraben werden gespenstisch. Klopfgeräusche künden einen Geist an. Renata deutet sein Klopfen als Verheissung ihres ersehnten Heinrich. Im Libretto erscheint dieser aber nicht. Ruprecht öffnet die Zimmertüre und stellt fest: «Da ist niemand.»

In Calixto Bieitos Inszenierung am Opernhaus Zürich sieht Renata in dieser Szene «ihren» Heinrich tatsächlich. Stumm steht er, ein gealterter Mann, vor dem Haus. Renata tritt ins Freie und umarmt ihn. Wer ist dieser Mann? Er ist derselbe, den man im ersten Akt, während Renatas grosser Rückblende, schon einmal gesehen hat. «Ich war acht Jahre alt, als er mir zum ersten Mal erschien», so klärt sie Ruprecht auf. Und der Blick des Zuschauers hebt sich dabei zum Kinderzimmer im Obergeschoss des Hauses, wo der Stumme am Bett einer Puppe sitzt. Also wohl doch keine «normale» Dreiecksgeschichte.

Die Zürcher Produktion von Sergei Prokofjews Oper «Der feurige Engel» ist nichts für schwache Nerven. Zum beklemmenden Inhalt mit seinem deprimierenden Ende gesellt sich eine radikal avancierte, wenig fassliche und bisweilen brutale Musik. Wer von Prokofjew nur das Ballett «Romeo und Julia» oder die «Symphonie classique» kennt, mag seinen Ohren kaum trauen. Überdies ist die Hauptrolle der Renata derart schwierig zu singen, dass es nur wenige Sängerinnen gibt, die das überhaupt schaffen. All dies sowie die restriktive sowjetische Kulturpolitik der Stalinzeit führte dazu, dass die zwischen 1919 und 1927 in den USA und in Deutschland komponierte Oper ihre szenische Uraufführung erst nach Prokofjews Tod, im Jahr 1955 in Venedig, erlebte.

In neuerer Zeit ist das Werk nun wieder häufiger auf den europäischen Bühnen zu sehen. Und es wächst die Einsicht, dass Prokofjew im «Feurigen Engel» eine Komposition über eine «verrückte» Frau geschrieben hat, die sich mit ähnlichen Werken, wie «Salome», «Elektra», «Lady Macbeth von Mzensk» oder «Lulu», messen darf.

Barrie Kosky hat Renata vor anderthalb Jahren an der Bayerischen Staatsoper als hysterische Frau gedeutet und damit eine typisch männliche Perspektive angelegt. Bieito hingegen zeichnet Renata in Zürich als Opfer sexueller Gewalt. Bei dieser Oper, die im Original im Mittelalter spielt, könnte man auch andere Aspekte wie Glauben und Aberglauben, Wahnsinn oder Exorzismus ins Zentrum rücken. Aber Bieitos Deutung ist schlüssig und bildet in unserer Zeit, in der immer wieder Fälle von Kindesmissbrauch ans Tageslicht kommen, einen aktuellen künstlerischen Beitrag.

Zu sehen sind demnach nicht spektakuläre Engels- und Teufelsgestalten. Renatas Erinnerungen an ihre schreckliche Vergangenheit visualisiert Rebecca Ringst vielmehr in einem Kubus, der verschiedene Räume eines (Seelen-)Hauses darstellt. Diese Räume bilden also gewissermassen Kammern der Erinnerung in Renatas Hirn. Im Kinderzimmer begegnet sie Heinrich, der sich als Kinderschänder entpuppt. In einem Praxiszimmer defloriert der Philosoph Agrippa (Dmitry Golovnin), der später auch als Mephistopheles einen Auftritt hat, mit dem Handschuh eine Frau auf dem Gynäkologenstuhl. Und im Salon, nach dem Libretto eine Schenke, treffen sich die Männer, um ihre lüsternen Blicke auf die verstörte Renata zu werfen. Alle diese Figuren stecken in etwas kleinbürgerlichen Gewändern (Kostüme: Ingo Krügler), die wohl sagen wollen, dass dieses Milieu der Nährboden für solche Entgleisungen sei. Die aus Litauen stammende Sopranistin Ausrine Stundyte ist das Aushängeschild der Zürcher Produktion. Nach Lyon und München verkörpert sie hier bereits zum dritten Mal die Renata. Ihre Stimme, die sie während der zweistündigen, ohne Pause durchgehenden Premiere nicht schont, drückt alle Höhen und Tiefen menschlicher Gefühle aus. Und mit der Rolle der verletzten, liebeshungrigen, am Schluss irre gewordenen Frau identifiziert sie sich hundertprozentig. Nicht minder beeindruckend ist der Ruprecht des Engländers Leigh Melrose: Mit seinem facettenreichen Bariton gestaltet er die Rolle des zurückgewiesenen und doch hoffnungslos abhängigen Liebhabers ausgezeichnet.

Der für das Geschehen zentralen, aber stummen Partie Heinrichs, des feurigen Engels, verleiht der Schauspieler Ernst Alisch das nötige Gewicht. Von den zahlreichen kleinen Rollen sei noch der Inquisitor von Pavel Daniluk erwähnt, der am Schluss der Oper mit seinem bezwingenden Bass eine Schlüsselstellung einnimmt.

Ein Glücksfall für die Zürcher Produktion ist der Dirigent Gianandrea Noseda. Der Italiener spricht Russisch und arbeitete eine Zeitlang am Mariinski-Theater bei Valery Gergiev. «Der feurige Engel» stellt Nosedas erste Auseinandersetzung mit diesem Werk dar. Der Dirigent lässt die bruitistischen Seiten der Partitur ungeglättet ausbrechen. Dabei nimmt er in Kauf, dass die Philharmonia Zürich die Sänger an extremen Stellen überdeckt. Deutlich bringt der Dirigent damit den sinfonischen Charakter des Werks zur Geltung, der im «Feurigen Engel» viel stärker ausgeprägt ist als in den andern Opern Prokofjews. Im Kontrast wirken die Inseln des Melodischen umso stärker.

Wenige Einsätze gibt es für den Chor. Wirkungsvoll und nicht frei von Ironie ist aber der Auftritt der Nonnen in der finalen Kloster-Szene. Jürg Hämmerli, der den Chor der Oper Zürich einstudiert hat, verabschiedet sich damit nach 30-jährigem Wirken vom Opernhaus.