Die Liebesgöttin übt sich in Demut

Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (29.03.2017)

Tannhäuser, 25.03.2017, Bern

In seiner «Tannhäuser»-Inszenierung erzählt Calixto Bieito die Geschichte einer Entfremdung

Wild wuchert die Natur in den schattigen Höhlen des Venusbergs, doch Wurzeln schlagen will Wagners Titelheld hier nicht. So üppig, wie die Pflanzen in der Lustgrotte treiben, so ungezügelt waltet hier das fleischliche Begehren. Befriedigung findet Tannhäuser dennoch nicht. «Nicht Lust allein liegt mir am Herzen», lässt er die ungläubige Venus wissen.

Das Herz aus den Fängen des Begehrens zu befreien, fällt ihm aber offensichtlich schwer: Innig klammert er sich an die Liebesgöttin, versenkt sein Haupt in ihrem Schoss, den er kurz zuvor noch mit leidenschaftlichem Griff erkundet hat. Doch der Entschluss ist gefallen: Zurück will er in eine Gesellschaft, deren lustfeindliche Regeln sich im Ideal der vergeistigten Liebe ebenso widerspiegeln wie in «der Glocken frohem Geläute», das der unglückliche Sänger so sehr vermisst.

Der spanische Regisseur Calixto Bieito, der erst kürzlich am Theater Basel mit Aischylos' «Oresteia» zur Musik von Xenakis Premiere feierte, entwirft in seiner Berner Inszenierung von Wagners romantischer Oper das Sinnbild vom Auszug eines Künstlers aus dem Paradies und von seinem Scheitern an der Enge einer Kultur, in der christliche Moralvorstellungen mit patriarchalen Strukturen und kompetitiver Männlichkeit einhergehen.

Markant setzt Rebecca Ringst dies im Bühnenbild um: Wo im ersten Akt dicht hängende Äste sich sanft bewegen und eine schattig-labyrinthische Szenerie erschaffen, strukturiert im zweiten Akt die klare Geometrie einer unterkühlten, strengen Architektur mit spiegelglatten Oberflächen das Geschehen. Nur selten aber folgt das menschliche Treiben auf der Opernbühne derart klaren Verhältnissen. Die Sängerinnen und Sänger in der Berner Inszenierung – die Bieito ursprünglich 2015 an der Flämischen Oper erarbeitet hat – wirken denn auch mit einer feinen Gestaltung ihrer Rollen einer gewissen Plakativität dieser eigensinnigen, im Endeffekt nicht völlig einleuchtenden Lesart des Regisseurs entgegen, namentlich die beiden Frauenfiguren Venus und Elisabeth.

So nähern Claude Eichenberger und Lene Kin?as ihre Figuren musikalisch und in der Darstellung immer wieder dem Charakter ihrer jeweiligen Gegenspielerin an: Eichenberger erschafft stimmlich eine reizvolle, sinnliche Venus, deren hemmungslose Lust aber fliessend auch dem Ausdruck von Irritation und Demut Platz macht. Kin?as' Elisabeth mag dagegen ihre Keuschheit stimmlich exponieren, konterkariert wird sie immer wieder durch eine Physis, der auch die körperliche Lust nicht fremd zu sein scheint.

Als Tannhäuser entwickelt Daniel Frank über die drei Akte hinweg eine temperamentvolle Dringlichkeit: Zeichnet er anfangs die zwischen körperlicher Lust und sinnlicher Liebe zerrissene Titelfigur selber noch etwas zögerlich, so wird sein Tannhäuser vor allem im dritten Akt zu einer treibenden Kraft im szenischen Geschehen. Ebenso findet das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Kevin John Edusei nach einem ersten Akt, in dem vor allem die feineren Passagen klanglich entschiedener hätten gesetzt sein können, nach der ersten Pause zu einem fokussierten Spiel und sorgt schliesslich – unterstützt durch die Chöre von Konzert Theater Bern – für ein energiegeladenes Finale.

Bei Wagner wird Tannhäuser am Ende im Sterben von seinen Sünden erlöst; doch in Bieitos Inszenierung gelten die abschliessenden Lobgesänge der Liebesgöttin: Wie die Architektur auf der Bühne im dritten Akt von wuchernder Natur durchdrungen wird, so sind die gesellschaftlichen Strukturen brüchig geworden, und der Mensch hat zu seiner Natur und ihren Trieben gefunden. Die Lesart des Regisseurs findet damit ein konsequentes Ende, sie nimmt dem Stück aber auch wesentliche Ecken und Kanten, indem Wagners konfliktbeladene Spannung zwischen den zwei Ordnungen in einer klassischen Entfremdungsgeschichte aufgehoben wird.

Wer den Niedergang der Kultur überlebt und wer nicht, das lässt das Schlussbild offen – Gestorbene und Überlebende wandeln in einer postapokalyptischen Landschaft nebeneinander. Fast wünscht man ihnen – sollten sie je in den Höhlen des Venusbergs ankommen –, dass sich der Konflikt umgehend von neuem entfache.