Nicht leben dürfen und nicht sterben können

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (27.03.2017)

Tannhäuser, 25.03.2017, Bern

Zwei Operninszenierungen des Regisseurs Calixto Bieito: «Oresteia» in Basel, «Tannhäuser» in Bern

Das Image eines Blut-und-Hoden-­Regisseurs, der gern mit Nackt- und Gewaltszenen provoziert, begleitet den katalanischen Regisseur Calixto Bieito (53) seit dem Anfang dieses Jahrhunderts. Dabei ist der stets im schwarzen T-Shirt auftretende Theatermann als Privatmensch die Sanftheit in Person. Auf schwierige Fragen antwortet er mit einfachen, emotionalen Sätzen, und während manche Regisseure die alten Bühnengeschichten mit Bedeutungsballast beladen, zieht Bieito klare, grossformatige Bilder ohne Komplexität vor. Ein hyperintellektueller Dramaturgen-Regisseur ist Bieito gewiss nicht.

Seine Basler Bühne für «Oresteia» ist ein schlichter Bretterboden, der am Ende zerlegt wird. Hinten ist das Orchester Basel Sinfonietta unter Franck Ollu platziert, auf einem Karren spielt der Schlagzeugsolist Matthias Würsch. Wir sehen erst im Video von Sarah Derendinger ein totes Kind im Wasser, dann werden wir Zeugen eines Kindsraubs. Der Mord des Agamemnon an seiner Tochter Iphigenie ist der Ausgangspunkt einer Verkettung von ­Morden und Rachehandlungen – Klytaimnestra (besser bekannt als Klytämnestra) mordet Agamemnon, Orestes tötet seine Mutter Klytaimnestra. Auch die Seherin Kassandra fällt. Die Rache an Orestes aber vollziehen die Erinnyen, die ihn in den Wahnsinn treiben.

Zur Oper verbunden

Es gibt keine Oper «Oresteia» von Iannis Xenakis (BaZ vom 23. 3.), wohl aber eine Konzertsuite mit diesem Namen. Diese wird am Theater Basel durch zwei weitere dramatische Szenen («Kassandra» und «Athene») zum Xenakis-Abend von 105 Minuten Dauer gestreckt und durch gesprochene Szenen aus der Tragödie des Aischylos in der Übersetzung von Kurt Steinmann ergänzt. Ob das Ganze nun eine Oper ist oder nicht, bleibe dahingestellt – der griechische Komponist (1922–2001) hielt diese Gattung ohnehin für überholt.

Am Theater Basel sieht man Menschenbilder wie von Opfertieren. Doch die drei zum Opernabend zusammen­gezwungenen Stücke irritieren durch ­manchen Perspektivenwechsel. Man bräuchte einen Moderator, um alles verstehen zu können. Warum kehrt Klytaimnestra, nachdem sie vom Sohn getötet wurde, in zwei Szenen wieder? Ist Elektra, die ihren Bruder Orestes hereinträgt, die Drahtzieherin des Muttermordes? Ist die von einem Mann dargestellte Person, die im ersten Teil Kassandra war, im letzten Teil eine andere? Laut Programmheft ist es Athene, die das demokratische Zeitalter in Athen einläutet. Man muss das wissen, denn sehen kann man es nicht. Am Ende plappert das Volk tonlos, und die Wahlurne wird ins Wasser geworfen. Allzu weit kann es mit der Demokratie (mit schönem Engagement dabei: Knaben- und Mädchenkantorei Basel) nicht her sein.

Attacke gegen das Publikum

Was aber will uns Calixto Bieito mit seiner quälenden Scheinwerfer-Attacke im ganzen zweiten Teil des Abends sagen? Dass wir, das Publikum, besser die Augen verschliessen oder gar zu Hause bleiben sollten? Nach seiner Verdi-­Inszenierung in Freiburg («Jérusalem», BaZ vom 3. 10. 2016) gab es Grund zur Annahme, solche Publikumsfolter gehöre zum Bieito-Stil. Am Theater Basel intensiviert er sie noch – vor Augenschäden muss gewarnt werden. Die vielen Unterwäsche- und Gewalt­szenen, die zu Bieitos Standardrepertoire gehören, wirken wie Zitate einer vergangenen Theatermode und rufen kaum noch Proteste hervor. Kein Intendant, keine Operndirektorin bringt diesen Erfolgsregisseur bisher von seinen exzessiv auf der Bühne ausgelebten Maschen ab.

Ungeachtet aller Fragen, Zweifel und Einwände ist dem Theater Basel eine musikalisch attraktive Aufführung moderner, bisweilen archaisch klingender Musik gelungen. Mit – allen voran – dem auch als Countertenor brillierenden Bariton Holger Falk, der seine Stimme blitzschnell wechselnd und ermüdungsfrei durch alle Höhen und Tiefen der Xenakis’schen Tonsprache führt. Myriam Schröder ist die ebenso vollmundige wie vollbusige Klytaimnestra, Simon Zagermann der markig artikulierende Agamemnon. Steffen Höld gibt mit kecker Nazifrisur den Aigisthos, Michael Wächter den athletischen Borderliner Orestes. Lisa Stiegler ist seine kindfraulich-reizende Schwester Elektra. Ganze Arbeit leistet der Theaterchor unter Henryk Polus.

Minnesänger im Zwiespalt

Am Tag danach wieder eine Bieito-­Premiere, diesmal am Theater Bern. Arbeitet Bieito jetzt am Regie-Fliessband? Nein, es handelt sich um eine Koproduktion mit anderen Häusern – die Wagner-Oper «Tannhäuser» in ­Bieitos Regie wurde bereits in Gent, Antwerpen und Venedig gespielt und hatte jetzt in Bern ihre Schweizer Nach-Premiere.

Es ist ein grosser Wurf geworden. Man erlebt intensive Momente der Opernregie, so schon im ersten Akt, als Tannhäuser im Venusberg (hier eher ein Venuswald) die Freuden der sinn­lichen Liebe erfährt. Ganz ohne Nymphen, Grazien und Bacchantinnen, die hat Bieito ins Off verbannt, womit er sich einige Peinlichkeiten erspart. Tannhäuser gibt sich in trauter Zweisamkeit mit Venus der Liebe hin, und das geht bei Bieito natürlich nicht ohne Cunnilingus ab.

Claude Eichenberger, eine Venus voller unerfüllter Begierde, die sie unter anderem an einem Baum befriedigt, singt die Sopranpartie mit stabiler Mittellage, während der Tenor Daniel Frank als Tannhäuser seine ausserordentliche sängerische Klasse aufscheinen lässt – im Schlussakt kommt man aus dem Staunen über seine glasklare Diktion, seine stimmliche Ausgeglichenheit und seine heldentenorale Kraft nicht hinaus.

Keine Erlösung

Ein Sänger von unerhörtem Format ist auch Jordan Shanahan als Wolfram von Eschenbach, der die Bühne als Mitglied einer Rockerbande betritt, aber sängerisch ein durchaus sensibler Charakter ist, der nicht nur seine «Abend­stern»-Romanze höchst differenziert angeht. Die Frau seiner Träume ist Elisabeth, die aber insgeheim in Tannhäuser verliebt ist – und diese grosse Frauenrolle wird hier nicht als blutleere Heilige, sondern als sinnliches Wesen aus Fleisch und Blut dargestellt. Liene Kinca heisst die grossartige Darstellerin.

Nimmt man noch den jungen Landgrafen von Kai Wegner und den Minnesänger Walter von der Vogelweide von Andries Clote hinzu, so darf man von einer Berner Traumbesetzung sprechen. Dirigent Kevin John Edusei trägt mit dem Berner Symphonieorchester die Sänger mit seinen eher langsamen Tempi auf Händen.

Bieito bleibt sich insofern treu, als er auch im «Tannhäuser» seinem Hang zum Pessimismus nachgibt. Seine «Tannhäuser»-Inszenierung hört dort auf, wo seine «Parsifal»-Inszenierung in Stuttgart vor sieben Jahren anfing, bei einer apokalyptischen Katastrophe. Abweichend von Wagners Text wird ­Elisabeth nicht im Sarg hereingetragen und stirbt Tannhäuser am Ende nicht. Er irrt orientierungslos über die Bühne, zerrissen zwischen den beiden Frauenfiguren, die seine Welt bedeuteten. Manchmal ist Weiterleben eben schlimmer als Sterben.