Was, wenn alles möglich wäre?

Franziska Frey, Aargauer Zeitung (04.04.2017)

Werther, 02.04.2017, Zürich

Die Premiere von Jules Massnets «Werther» im Opernhaus Zürich war ein Erlebnis voller Poesie

Charlotte leidet. Als Mädchen verliert sie ihre Mutter und sorgt fortan als Älteste liebevoll für ihre acht Geschwister. Mit Werther, der plötzlich in ihrem Leben auftaucht, verbringt sie einen seltenen Moment der Unbeschwertheit, ihre Verlobung mit Albert vergessend. Während Werther sich unsterblich in Charlotte verliebt, geht Charlotte den vorgezeichneten Weg, heiratet Albert. Lange in Jules Massenets Oper «Werther», die am Sonntag im Opernhaus Zürich Premiere feierte, werden Charlottes Gefühle nicht deutlich – liebt sie Werther oder nicht? Doch dann, am Anfang des 3. Aktes, kurz bevor sich die beiden wiedersehen, wendet sich Charlotte innerlich zerberstend an Gott: Seinen Gesetzen will sie gehorchen, doch lieben tut sie Werther ...

In Goethes Briefroman «Die Leiden des jungen Werther» von 1774 war sie, Lotte, noch eine Idee Werthers. Erst im «Werther» von Massnet (uraufgeführt 1892) wird Lotte zur Figur Charlotte, in ihrem dramatischen Potenzial Werther ebenbürtig. Unter der Regie von Tatjana Gürbaca wird Charlotte gar zur Hauptperson. Und Anna Stéphany als Charlotte füllt den Raum aus, den ihr die Regisseurin zuspricht: Erst gibt sie ungekünstelt die mädchenhafte Charlotte, dann wechselt sie überzeugend zur gereiften Ehefrau an der Seite Alberts, gesungen vom Norweger Audun Iversen, der erst als verständnisvoller (gar die Wäsche faltender) Verlobter auftritt, später aber mit seinem kraftvollen Bariton seine Position als Ehemann verteidigt. Stéphanys Interpretation der zwischen Sehnsucht und Moral hin- und hergerissenen Charlotte zu Beginn des 3. Aktes gelingt so intensiv, dass sie für tiefes Ergreifen sorgt – Anna Stéphanys Debüt als Charlotte ist eine Wucht.

Im ersten Teil zweidimensional

Tatjana Gürbaca sah für Charlotte einen Raum vor, den sie bis am Schluss nicht verlässt. Sogar der Ball und die Szene im Wirtshaus spielen sich hier ab. Klaus Grünberg schuf dafür einen multifunktionalen, mit viel Flucht ausgestatteten Raum, der im Nirgendwo – im All? – zu schweben scheint. In diesem Raum taucht Werther auf, platzt wie ein Fremdling in die (fast) heile Welt hinein. In der Inszenierung bleibt dann zunächst offen, was Werther will. Ist Charlotte vielleicht nur ein Party-Flirt? Findet sich dieser drahtige kleine Herzensbrecher-Typ nicht einfach ganz toll in seiner eigenen Verliebtheit? Juan Diego Flórez mimt diesen Werther, der im ersten Teil unerklärlich zweidimensional bleibt. Ist es vielleicht die Konsequenz daraus, dass Werther erst allmählich als unsterblich Verliebter ernst genommen werden soll?

Verdienter Szenenapplaus

Ab dem dritten Akt ist davon nichts mehr zu spüren. Nachdem bereits Charlotte keine Zweifel an ihren Gefühlen liess, tritt nun auch Werther als tieftrauriger, hoffnungslos Liebender auf. Ein hervorragender Flórez wirft sich in «Pourquoi me réveiller» vor Charlottes Füsse. Begeisterter – verdienter – Szenenapplaus im Opernhaus Zürich.

Die Philharmonia Zürich kommentierte, untermalte, kündigte an, spann weiter und verschaffte so dem Bühnengeschehen eine Vielschichtigkeit, dass es eine Freude war. Cornelius Meister schien Massenets Partitur (in Form der kürzlich erschienenen kritischen Edition) mit einem Röntgenblick zu lesen; Meister erfasste alle tiefer liegenden Schichten und legte sie wohlüberlegt frei. Und nie klang Massnet wattig oder klebrig, das wandte er mit gutem Sinn für (vielfach rasche) Tempi und plastische Konturierungen ab. Unbedingt sollte noch Mélissa Petit erwähnt werden, die ebenfalls in einem Rollendebüt mit ihrer klaren, perlenden Stimme ausgezeichnet die Sophie interpretierte.

«Werther» geht dramatisch zu Ende: Werther hat sich mit Alberts Waffe in den Kopf geschossen, singt noch minutenlang weiter, die Zeit, die Realität, alles löst sich auf während dieses entrückten, traurigen Endes – herrlich bewegend Anna Stéphany und Juan Diego Flórez. Regisseurin Tatjana Gürbaca ergriff hier die Chance, das Irreale von Massenets Opern-Schluss in einem poetischen Spiel mit Zeit und Raum zur Frage zu verdichten: Was wäre, wenn alles möglich wäre?