"Werther“ am Opernhaus Zürich fabelhaft umgesetzt

Werner M. Grimmel, Schwäbische (04.04.2017)

Werther, 02.04.2017, Zürich

Wer die musikdramatischen Qualitäten von Jules Massenets „Werther“ in perfekter Umsetzung erleben möchte, sollte sich die neue Produktion des Stücks am Opernhaus Zürich nicht entgehen lassen. Cornelius Meister dirigiert die genial instrumentierte Partitur mit feinem Gespür für ihre große emotionale Bandbreite zwischen intimsten Lyrismen und scharf ausbrechender Klangwucht. Geballten Szenenapplaus gab es bei der Premiere für den peruanischen Startenor Juan Diego Flórez, der die kräftezehrende Titelrolle sängerisch und szenisch bravourös meistert.

Massenets vieraktiges Drame lyrique nach Goethes frühem Briefroman wurde 1892 uraufgeführt. Das französische Libretto von Edouard Blau, Paul Millet und Georges Hartman erzählt die Geschichte von Werther und Charlotte mit einigen Akzentverschiebungen gegenüber der literarischen Vorlage. Tatjana Gürbacas fein gearbeitete Zürcher Inszenierung verortet das Geschehen in einem hohen, fensterlosen Innenraum mit moderner Holztäfelung (Bühne: Klaus Grünberg).

Allerlei szenische Zutaten

Karomuster dominieren bei den Anzügen der Männer. Zwischen den Erwachsenen treiben sauber gekleidete Kinder artig ihr Spiel mit Pfeil, Bogen und Indianerfedern (Kostüme: Silke Willrettt). Die große Uhr an der Wand ist stehen geblieben, als wolle sie andeuten, dass diese in sich geschlossene gutbürgerliche Welt sich seit Goethe nicht wesentlich verändert habe. Nur einmal, als der oft angedrohte Selbstmord Werthers tatsächlich bevorsteht, laufen die Zeiger rasend schnell über das Ziffernblatt.

Gürbaca hat sich zahlreiche szenische Zutaten einfallen lassen. Nachdem die Kinder ins Bett geschickt worden sind, belauscht ein zähneputzender Dreikäsehoch, wie Charlottes jüngere Schwester Sophie (Mélissa Petit mit glockenhellem, beweglichem Sopran) den Amtmann (Cheyne Davidson) an seinen Stammtisch mit Schmidt (Martin Zysset) und Johann (Yuriy Tsiple) erinnert. All diese Nebenrollen sind in Zürich glänzend besetzt. Plötzlich tummeln sich ausgelassene Partygäste im Raum.

Auch im weiteren Verlauf drängen sich immer wieder surreale Bilder in die Handlung. Mit romantischer Exaltiertheit und einem Übermaß an Streichervibrato platzt der verplante Träumer Werther in die gesittete Welt Charlottes herein. Eisiger Wind bläst Schnee von draußen über die Schwelle. Schwelgerisch idealisiert der tenorale Realitätsverweigerer im Gesang seine egozentrische Sicht von Natur, Raum, Zeit und Liebe, betätschelt die Kinder, hält Charlottes Hand viel zu lange, ignoriert ihre Zurückhaltung und begrapscht sie aufdringlich.

Zweifelhaftes Rebellentum

Immer wenn Werther seine subjektive, vom Orchester klangmächtig ausgemalte Empfindung beschwört und sein empfindsames Ego stimmlich mächtig in Szene setzt, lässt Gürbaca die restlichen Akteure im Standbild erstarren – ein sinnfälliges Bild für sein krankhaftes Ausblenden der Wirklichkeit, das freilich als zweifelhaftes Rebellentum erscheinen soll. Die bürgerliche Sphäre von Charlotte (sensationell: Anna Stéphany) und ihrem Mann Albert (fabelhaft: Audun Iversen) wird hingegen einseitig als trostloser Alltag diffamiert.

Gürbacas Werther reißt Bretter aus dem Parkett heraus, imaginiert theatralisch sein Grab und zeigt zunehmend Züge eines Psychopathen, der mit Frustrationen und Ohnmacht nicht umgehen kann. Rücksichtslos nötigt er Charlotte mit Vorwürfen Zugeständnisse ab, redet ihr Schuldgefühle ein und badet in Selbstmitleid – ein unbeherrschter, verantwortungsloser Bestürmer und Bedränger, der trotzig das Lebensglück seiner Opfer zerstört. Starttenor Flórez behauptet seinen anmaßenden Einspruch gegen die Realität bis hin zu brachialem Fortissimo.

Zu spät merkt Charlotte, dass sie infiziert ist von den dosierten Erpressungen und Manipulationen seiner Briefe. Verzweifelt wirft sie beim Schmücken des Christbäumchens eine Glaskugel an die Wand. Wie ein böser Mephisto steht der Verführer auf einmal neben ihr und zieht noch einmal alle Register, um für einen Moment zu erzwingen, was er auf Dauer nicht haben kann. Draußen rieselt leise der Schnee. Immer langsamer und verschwommener fallen die Flocken und mutieren schließlich zu einem Sternenhimmel, an dem eine Erde herniedersinkt.