Jetzt redet der Muttermörder endlich

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (28.02.2017)

Orest, 26.02.2017, Zürich

Erstaufführung am Opernhaus Zürich

So selbstverständlich kann Zeitgenössisches gelingen: Hans Neuenfels und Erik Nielsen verhelfen in Zürich Manfred Trojahns «Orest» zum Erfolg – einer meisterhaften neuen Oper, die Strauss' «Elektra» fortschreibt.

Wenn nur diese Stimmen nicht wären! Bei Tag und Nacht quälen sie ihn, den schuldzerknirschten Mörder. Ihn, den Sohn, der seine Mutter Klytämnestra mit dem Beil erschlug – und der doch mit seiner Tat nur ausführte, was die Götter ihm auferlegt haben. Es ist nicht zum Aushalten, dieses Flüstern, Geifern und Zischen – man könnte glatt wahnsinnig werden davon. Doch Orest, der so von den Stimmen in seinem Kopf Geplagte, ist nicht wahnsinnig.

Er ist ein Mensch, der mit sich im Bewusstsein seiner Schuld hadert, und gerade dieses Ringen um seine Verantwortung wird ihm am Ende die Kraft verleihen, das ewige Morden – Aug um Auge, Opfer um Opfer – zu beenden. Orest, der Täter, akzeptiert seine Schuld und durchbricht damit das archaische Rachegesetz der Götter. Als freier Mensch geht er erhobenen Hauptes in eine ungewisse Zukunft; doch es ist seine Zukunft, und fortan liegen Wohl und Wehe in seiner Hand.

Dem Täter eine Stimme

Wer mit Richard Strauss' Musikdrama «Elektra» von 1909 vertraut ist, kennt die Protagonisten in Manfred Trojahns faszinierender Oper «Orest», die am Sonntag ihre Schweizer Erstaufführung im Opernhaus Zürich erlebte. Dieses 2011 an der Nederlandse Opera Amsterdam uraufgeführte «Musiktheater in sechs Szenen» setzt in vielerlei Hinsicht dort an, wo Strauss' Fin-de-Siècle-Schocker nach der Vorlage von Hugo von Hofmannsthal endet. Trojahns Werk ist damit ein Musterbeispiel für die gelungene Fortschreibung eines bekannten Theaterstoffs aus der gewandelten Perspektive einer nachfolgenden Epoche. Vereinfacht gesagt gibt Trojahn in seinem Stück einer Figur der Atriden-Sage ihre Stimme zurück, der bei Strauss buchstäblich die Worte fehlen.

Dahinter steht ein sehr modern gedachter Akt der Differenzierung und Wiedergutmachung. Vergleicht man nämlich den Text der Strauss-Oper mit Hofmannsthals etliche Jahre früher und unabhängig von ihr entstandenem «Elektra»-Drama, traut man seinen Augen kaum: Schon hier ist der Heimkehrer Orest ein Zauderer, der unter der Last des ihm aufgebürdeten Muttermordes zu zerbrechen droht. Strauss jedoch hat alle diese Passagen gestrichen und den Rächer auch musikalisch zu einem düsteren Schweiger gemacht. Was in ihm vorgeht, erfahren wir erst jetzt, ein Jahrhundert später, bei Trojahn.

In Zürich hat man den einstigen Regietheater-Berserker Hans Neuenfels für diesen tiefen Blick in die Seele eines Täters engagiert. Neuenfels, inzwischen fünfundsiebzig, macht seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Alterskarriere im Musiktheater, und nach der Zürcher Aufführung weiss man umso besser, warum. Dieser Regisseur bebildert das komplexe Geschehen nicht bloss oder zwingt ihm eine aus persönlicher Nabelschau gewonnene Deutung auf. Er jongliert vielmehr virtuos und stellenweise in kluger ironischer Brechung mit den tonnenschweren philosophischen Themen von Schuld und Sühne, die in diesem Stück gewälzt werden.

Besonders schlüssig gelingt ihm dies bei der Doppelfigur der beiden Götter Apollo und Dionysos, die abwechselnd von dem Tenor Airam Hernandez verkörpert werden. Während der Gott der Vernunft mit seiner rostig gewordenen Leier und seinem Schlapphut eher wie ein heruntergekommener Agent wirkt, benutzt der oberste Bacchant die Menschen bloss noch als Spielzeuge zum Lustgewinn für seinen goldenen Riesenphallus, den er in eitler Dauer-Erektion vor sich herträgt. Nur zu verständlich, dass sich Orest von diesen «Höheren» abwendet und das Seelenheil lieber bei sich selber sucht. Zumal als er für Dionysos auch noch die schöne Helena – köstlich selbstverliebt gesungen von Claudia Boyle – meucheln soll, damit diese ihm im Olymp als Trophäe diene.

Den Widerpart zu diesem ranzig gewordenen Götterpersonal bildet Orests Schwester Elektra. In der eindringlichen Darstellung von Ruxandra Donose ist sie eine nur ihrem eigenen Rachedenken verhaftete Fanatikerin – mit jenem Hang zu blindwütigem Hass, der auch Selbstmordattentäter antreibt. Orest hingegen sucht gerade bei dieser Schwester, die seine Motive doch als Einzige verstehen müsste, ein wenig familiäre Geborgenheit und Liebe. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden in der vierten Szene, in der die traurigen Atriden-Geschwister stachelig wie die Igel übereinander herfallen, wird zu einem Höhepunkt der Aufführung.

Neben der fordernden, zielgerichteten Elektra von Donose gewinnt Georg Nigls Darstellung der Titelpartie gerade in den verinnerlichten Momenten besondere Eindringlichkeit, etwa in seinem grossen Auftrittsmonolog «Mutter? Mutter! Warum blickst Du mich an mit zerbrochenem Blick?». Wo sich Nigl dagegen mit Wozzeck-Schmerzenston in leidenschaftliche Ausbrüche steigert, gerät die Stimme in der Höhe etwas ins Flackern. Der unbedingten Glaubwürdigkeit dieses klugen Rollenbildes tut das freilich keinen Abbruch. Mit seiner darstellerischen Präsenz bleibt Nigl auch dort Fix- und Bezugspunkt des Geschehens, wo nur über Orest und sein Schicksal verhandelt wird, etwa in den von der Regie wiederum entlarvend zugespitzten Szenen des bis zur Kenntlichkeit durchsichtigen Polit-Spielers Menelaos (Raymond Very), dem es nur um den eigenen Vorteil zu tun ist.

Neuenfels setzt sogar hinter das offene, von Trojahn wohl als Hoffnungsschimmer verstandene Ende ein leises Fragezeichen. Obwohl Orest auf Geheiss des Gottes auch Hermione die Mutter genommen hat, geht er laut Trojahns eigenem, gekonnt verdichtetem Libretto am Schluss gemeinsam mit Helenas Tochter ab in ein neues Leben, das auf Verständnis und Vergebung baut. Bei Neuenfels und der für die durchweg beredten Kostüme verantwortlichen Andrea Schmidt-Futterer ist Hermione (Claire de Sévigné) allerdings ein naives Ding im Tutu, das Orest im Wortsinne nicht zu folgen vermag.

Auf Bergs und Henzes Spuren

Am Pult der sehr transparent spielenden Philharmonia Zürich steht mit Basels Musikdirektor Erik Nielsen ein Experte für neue Musik. Nielsen stellt denn auch weniger die ohnehin spürbare Nähe zum Spätromantiker Strauss heraus; vielmehr fächert er die eigenständig auf den Spuren von Berg und Henze weiter wandelnde Partitur in ihrem ganzen motivischen und instrumentatorischen Reichtum auf. Nicht zuletzt dieser so souveräne wie selbstverständliche Umgang mit einem herausragenden Werk der neuesten Operngeschichte beschert Zürich einen ganz grossen Abend.