Mit Mozart im Freudenhaus

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (30.01.2017)

Don Giovanni, 27.01.2017, Basel

Die Meisteroper «Don Giovanni» in einer Neuproduktion am Theater Basel

«Don Giovanni» heisst die Mozart-Oper von 1787, im Untertitel «ossia Il dissoluto punito». Diese Ergänzung fehlt in der Basler Produktion dieser Oper, einer Koproduktion mit der English National Opera in London, wo die Inszenierung des britischen Regisseurs Richard Jones im Bühnenbild von Paul Steinberg bereits im Oktober Premiere feierte. Die Titeländerung hat ihren Grund: In Jones’ Inszenierung wird Don Giovanni, der Mörder und notorische Frauenheld, gar nicht be­­straft. Im richtigen Moment setzt er seinen Diener Leporello an seine Stelle, und der von Giovanni ermor-­ dete Komtur, der im gespenstischen Schlussteil als Untoter wiederkehrt, um den Übeltäter der verdienten Strafe zuzuführen, zieht den unschuldigen Diener mit in den Abgrund.

Betrüger bleibt eben Betrüger, darin bleibt sich Don Giovanni treu. Und ist am Ende trotz den «Wanted»-Plakaten, die an jeder Strassenlaterne hängen, siegreich: Don Giovanni kann weitermachen wie bisher, eine Frau nach der anderen verführen, Alte mit Jungen, adlige Frauen mit Bauernmädchen abwechseln lassen. Einmal ist sogar ein Mann das Objekt seiner magischen Verführungskünste. Am Anfang und am Ende sehen wir diesen Erotomanen, der ein ganzes Freudenhaus mit sich selbst als wichtigstem «Personal» betreibt und in Leporello einen verlässlichen Partner hat, jeweils für ein paar Augenblicke mit einer Spanierin hinter einer Tür verschwinden. Was sie dort treiben, ist der Fantasie des Zuschauers überlassen.

Komödie ohne Tiefe

In Leporello hat der adlige Giovanni einen Zuhälter, der auch mal einen Blick durchs Schlüsselloch erhascht. Dieser Don Juan kennt keine Tabus. Er legt auch Donna Anna, deren Vater er danach mit einem Stich in die Lendengegend ins Jenseits befördern wird, über die Bettkante.

Aber Giovanni ist nicht der einzige Liebessüchtige in diesem Pandämonium der menschlichen Begierden: In der ersten Szene sehen wir den Komtur, wie er mit einer jungen Elevin Sexspiele treibt, während Don Giovanni mit Donna Anna frivole Sadomaso-Praktiken erprobt.

Unendlich viel und unglaublich Kluges ist über die Figur des Don Giovanni geschrieben worden, über den Nihilismus dieses Triebtäters, über die Macht des Erotischen, das Stockholm-Syndrom und die sinnliche Kraft der Musik. Regisseur Jones schert sich wenig um die metaphysische Tiefe dieses Werks, ihm geht es mehr um das «Dramma giocoso», um die Komödie.

Türen auf, Türen zu

Wenn sich Giovanni mit Zerlina ins Bett legen will, liegt dort schon jemand – Donna Elvira, die Hüterin von Zerlinas Jungfräulichkeit. Das Paradestück der Inszenierung ist die Verwechslungs­szene von Giovanni und Leporello: Ohne rote Perücke und Hornbrille ähnelt der Diener seinem kahlköpfigen Chef, und wenn Leporello stumm die Lippen bewegt, während Don Giovanni ihm die Stimme leiht und Donna Elvira mitsamt ihrer Zofe bezirzt, darf auch gelacht werden.

Die mandolinenbegleitete Kanzonette «Deh vieni alla finestra» singt Don Giovanni in einer Telefonzelle; er hat bei Donna Elvira angerufen und die junge Zofe an den Apparat bekommen. Später wird Ottavio in der nämlichen Telefonkabine mit Anna kommunizieren, die fernmündlich ihre grosse Szene «Crudele! Ah no, mio bene» durchgibt – sie hat die alte Hoffnung, mit Giovanni ein Liebespaar bilden zu können, nie ganz aufgegeben. So wenig wie Donna Elvira, die sich am Ende mehr aus Verzweiflung als aus Überzeugung zu einem Leben im Kloster entscheidet.

Die Inszenierung von Richard Jones hat wenig Vertrauen in die Ausdruckskraft der Musik Mozarts. Die unentwegt geöffneten und geschlossenen Türen und die verschiebbaren Wände bringen viel Unruhe ins Spiel, und das Herumrennen von Zimmer zu Zimmer in der ersten Szene des abendfüllenden Werks ist dem Gesang nicht förderlich. Man ertappt sich in dieser bühnentechnischen Materialschlacht beim Gedanken, wie aktuell und nach wie vor unerfüllt doch die Idee des «leeren Raums» des bald 92-jährigen britischen Jahrhundertregisseurs Peter Brook ist.

Nicht nur im ersten Terzett nach der mit schönem Nachdruck gespielten Ouvertüre gab es Wackler im Zusammenwirken von Orchestergraben und Bühne. Die Premierenaufführung wirkte orchestral noch nicht ganz fertig geprobt; und dies, obwohl Dirigent Erik Nielsen – in den Rezitativen auch gewandter Spieler am Hammerklavier – mit dem Sinfonieorchester Basel (teilweise auf historischen Instrumenten) eher ruhige Tempi wählte und spürbar darauf achtete, die Sänger auf der Bühne nicht zu hetzen.

Unverbrauchte Stimmen

Ein ausgesprochen junges Gesangsensemble leistet auf der Basler Opernbühne ganze Arbeit. Erst 25 Jahre zählt der Titeldarsteller, der Mailänder Bass Riccardo Fassi. Imponierend seine Sicherheit im Text und seine Souveränität im Schauspielerischen. Die für diese Partie erforderliche Differenzierung der stimmlichen Farben muss sich mit wachsender Erfahrung noch einstellen.

Nur wenige Jahre älter ist Biagio Pizzuti, der die Leporello-Partie mit bemerkenswerter Kraft und Variabilität der stimmlichen Mittel verkörpert und den buffonesken Zügen dieser Figur nichts schuldig bleibt. Als in jeder Hinsicht voluminöser Komtur – ob blutverschmiert oder in Armeeuniform – glänzt der Bass Michael Hauenstein.

Die sängerisch wohl reifste Leistung kam von der Australierin Kiandra Howarth (Donna Anna), auch sie deutlich unter dreissig: eine Stimme von glühender Intensität und Leidenschaft, mit weit tragenden Phrasierungen und nie störendem Vibrato.

Donna Elvira wird von Anna Rajah verkörpert – ein Sopran von schneidender Schärfe und noch etwas schmaler Tiefe, passend zum verletzten Ehrgefühl dieser tragischen Operngestalt.

Zerlina wird von der Mezzosopranistin Maren Favela gesungen. Sie ist die einzige hell gekleidete Person in einem dunkel gehaltenen Ensemble (Kostüme: Nicky Gillibrand) und singt mit ihrer klar fokussierten, für diese Partie aber zu wenig warmen Stimme stabil und klangfarblich eher neutral.

Ihr Bräutigam Masetto – ein Bauer im Sonntagsstaat – ist beim Bass Nicholas Crawley gut aufgehoben. Simon Bode singt die grosse Tenorpartie des Don Ottavio (mit Arie «Dalla sua pace»). Technisch und musikalisch ist ihm nichts anzukreiden; das flache Timbre seiner Stimme ist Geschmackssache.

Sängerisch und orchestral (fabelhafte Holzbläser!) gab es viel Erfreuliches zu hören an diesem Premierenabend, und der von Henryk Polus einstudierte Chor agierte tadellos.

Über die Inszenierung werden sich Anhänger und Verächter des sogenannten Regietheaters kaum einigen können. Sie wirkt cool und emotional neu­tral; die entscheidende Frage, wer dieser Don Giovanni nun ist, vermag sie nicht zu beantworten. Nach 165 Spielminuten und einer Pause mischten sich einige Buhs in den starken, aber nicht frenetischen Premierenapplaus. Es wird gestritten werden über die Londoner/Basler Neuinszenierung dieser «Oper aller Opern», wie E. T. A. Hoffmann sie im Feuer der Begeisterung nannte.