Erst Zuckerwatte, dann Drama

Christian Berzins, NZZ am Sonntag (04.12.2016)

Rigoletto, 16.10.2016, Luzern

«Wir wollen hinausgehen in die Stadt!» Jeder neue Theaterdirektor betet diese Litanei zu Beginn einer Amtszeit jeweils herunter. Der 39-jährige Deutsche Benedikt von Peter aber nimmt sie sich in Luzern mehr als zu Herzen: Er geht sogar hinaus in die raue Industrievorstadt – und landet dort mit «Rigoletto» einen riesigen Erfolg: 17-mal ausverkauft! Zugegeben, diese Oper ist keine Rarität, aber spielt man den Verdi-Schlager in einer stillgelegten Fabrikhalle, geht man ein Risiko ein. Der 36-jährige Deutsche Regisseur Marco Storman gibt sich mit einem mehrstöckigen Zuschauer- wie Bühnenraum nicht zufrieden, sondern vereint zu Beginn Besucher und Protagonisten auf demselben Niveau. Verstohlen nickt man beim Eingang einem Clown zu, nach dem zögerlichen Ablehnen einer Zuckerwatte wünscht man sich seinen Platz herbei, da erklingt bereits die Stimme einer Sopranistin, und der Opernbesucher steckt mittendrin im Fest des Fürsten von Mantua. Hier zieht der Spassmacher Rigoletto die Fäden, verspottet die Schwachen, bewundert seinen Fürsten. Das Blatt wird sich wenden und Rache am Duca das Einzige sein, was das Herz des Narren verlangt. Die Oper kann beginnen, die Zuschauer können ihre Plätze einnehmen! Doch nichts bleibt normal. Guckkasten-Perspektive gilt hier nicht – und wer mit wem spielt, ist auch nicht klar: Die Welt scheint sich im Kopf Rigolettos zu drehen. Was ist Fiktion, was Wirklichkeit? Der alte Mann sucht Halt, taumelt – und fällt.

Ein prächtiges Ensemble, angeführt von Claudio Otelli (Rigoletto), spielt sich hier bis in die kleinsten Rollen um Kopf und Kragen. Grossartig ist Magdalena Risberg als Gilda. Die 60 Jahre alte Pilothalle, wo einst neue Seidengarne erforscht wurden, wird nach der letzten Vorstellung abgebrochen. Schön, kann dieser Ort dank «Rigoletto» noch einmal Geschichte schreiben.