Das Haar als Sitz der Seele

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (19.09.2016)

Die tote Stadt, 17.09.2016, Basel

Die Basler Opernsaison begann mit einer packenden Aufführung von Korngolds Oper «Die tote Stadt»

Sollte einmal jemand auf die (vielleicht gar nicht so abstruse) Idee kommen, eine Studie über das Haar in der Oper zu verfassen, so käme er oder sie nicht um zwei Bühnenwerke aus dem frühen 20. Jahrhundert herum: Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» und Erich Wolfgang Korngolds «Die tote Stadt». Während Debussys Maeterlinck-Oper seit über hundert Jahren als Meisterwerk gilt, hat die Oper des Wiener Kritikersohnes Korngold schon diverse Konjunkturen erlebt. Nach der sensationellen Uraufführung 1920 war sie ein Modestück, dann geriet sie in Kitschverdacht – dass ihr frühreifer Komponist nach der Vertreibung aus Österreich in Hollywood Karriere machte, hat ihm die «seriöse» Musik­szene nie ganz verziehen.

Ein Amerikaner ist es nun, der diesen gross besetzten Opern-Einakter mit dem Sinfonieorchester Basel sehr gewinnend aus dem Graben ertönen lässt: Erik Nielsen, seit dieser Spielzeit Musikdirektor am Theater Basel. Der Anfang mag dem jungen Dirigenten und seinem Orchester noch allzu ­verhalten geraten sein, man vermisste die Schärfe und Kompromisslosigkeit der Korngold’schen Instrumentation. Schon in der zweiten der 13 Szenen war die für diese Musik erforderliche Betriebstemperatur erreicht und blieb bis zuletzt erhalten.

Obsession einer Liebe

Korngold schrieb eine Musik, die gleissend und prickelnd, spritzig und sentimental, erotisch und brutal sein kann und die alle paar Augenblicke ihren Charakter wechselt. Er schenkt dem Opern-Habitué zwei lyrische Arien mit Ohrwurm-Qualität («Glück, das mir verblieb» und «Mein Sehnen, mein Wähnen»), es gibt einen frommen Kinderchor und viel expressionistisch aufrauschende Musik. Wer unbedingt vergleichen will, kann sich bisweilen an «Salome» von Richard Strauss erinnert fühlen, aber ein Strauss-Imitator war Korngold gewiss nicht.

Paul trauert um seine verstorbene Frau Marie und hat einen Reliquienschrein mit Erinnerungsstücken eingerichtet, wie wenn es sich um eine Heilige handelte. Besonders um ihr Haar treibt er einen die Perversion streifenden Kult: das Haar als Sitz der Seele, als dasjenige am Menschen, das unzerstörbar und ewig ist. Als Paul eine Frau von ähnlichem Aussehen kennenlernt, die Marietta heisst, gerät seine Trauer aus dem Gleichgewicht: Er lässt sie Maries Kleider tragen, bald glaubt er in Marietta seine Marie zu lieben, bald will er sich ganz auf die neue Frau in seinem Leben einlassen. Nach einem Streit erdrosselt er Marietta mit dem Haar seiner früheren Frau – bis sich das Ganze als Halluzination einer verirrten Seele erweist und die Oper prosaisch zu Ende geht: Marietta kehrt nochmals zurück, um ihren Schirm und die vergessenen Rosen abzuholen. Und weg ist sie.

Selbstverständlich ist Marietta nicht Marie, und vor allem entspricht sie nicht dem Idealbild, das sich Paul von der Frau gemacht hat. Marietta ist eine lebenslustige Tänzerin, die den Verlockungen des Lebens nachgeht und für die das «Gräflein» Paul nicht viel mehr als eine Affäre ist, eine vorübergehende Abwechslung von der turbulenten Oberflächlichkeit ihrer Theaterkolleginnen und -kollegen.

Simon Stone, der 32-jährige Shooting Star am Theater Basel («John Gabriel Borkman»), hat das Stück in seiner ersten Opernregie in die Gegenwart verpflanzt und mit dem Bühnenbildner Ralph Myers alle Assoziationen an das alte Brügge ausgemerzt – denn dieses ist mit der «toten Stadt» gemeint und entgegen anderslautenden Vermutungen nicht das verkehrsberuhigte Basel. Paul haust in einer modernen, mit Designermöbeln der klassischen Moderne ausgestatteten Wohnung. Es gibt Flachbild-TV und Notebook, man ist schliesslich nicht von gestern.

Sängerische Glanzleistungen

Erst ist Pauls Zuhause sehr übersichtlich in vier Räume gegliedert, von denen einer dem «Erinnerungskabinett» mit unzähligen Fotos und einem Metallschrank mit dem heiligen Haar Maries vorbehalten ist. Dann geraten die Räume ebenso wie Pauls Seelenhaushalt in Unordnung, Oben und Unten, Innen und Aussen werden so austauschbar wie Realität und Fiktion in Pauls Vorstellung. Die Drehbühne wird zum Totentanz. Das ist vom Theater Basel technisch souverän und konzeptionell überzeugend umgesetzt.

Das Basler Opernensemble ist bis auf wenige Stimmen ausgedünnt. Aber es gibt einige Sängerpersönlichkeiten, die seit Jahren immer wieder dabei sind. Zu ihnen zählt der Tenor Rolf Romei, der am Premierenabend einen seiner grössten Bühnenerfolge einfahren konnte. Er singt und spielt, seine Kräfte klug dosierend, einen Paul, der zwischen Leidenschaft und Kalkül zerrissen ist. Seine Diktion ist vorbildlich, sein Piano farbenreich und berührend, und die wenigen gestemmten hohen Töne im Forte fallen kaum ins Gewicht.

Eine Glanzbesetzung ist Helena Juntunen in der Doppelrolle als (reale) Marietta und (imaginierte) Marie. Bald gespenstische Tote, bald liebenswertes Flittchen! Ihr Sopran schmiegt sich Korngolds Melodien wunderbar sinnlich an, kann in der Höhe auch funkeln und klingt niemals schrill. Die junge Genferin Eve-Maud Hubeaux ist mit ihrem sonoren Alt eine beeindruckende Darstellerin der Haushälterin Brigitta, und in den beiden Baritonpartien – Freund Frank und Pierrot Fritz – glänzt der erst 27-jährige Dresdener Sebastian Wartig mit warmer, drucklos geführter Stimme. In kleineren Partien zu erleben sind Ye Eun Choi, Sofia Pavone und ­Na­than Haller vom Basler Opernstudio sowie Karl-Heinz Brandt in einer einmal mehr sehr souverän bewältigten Charaktertenorrolle. Dass die Theaterleute klischeehaft als frivole Säufer gezeichnet sind – wir nehmen es als authentische Auskunft aus dem Theater hin.

Mädchen und Knaben von der Mädchen- und der Knabenkantorei Basel bringen turbulentes junges Leben in das im Trübsinn erstarrende Dasein Pauls. Und die Prozession im römisch-katholischen Brügge? Die lässt Regisseur Stone schlicht weg, und man vermisst diese Sakralfolklore nicht. – Lang anhaltender Applaus nach einer mit Pause fast dreistündigen grandiosen Aufführung.