Die neue Opern-Unübersichtlichkeit

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (08.11.2016)

Die Entführung aus dem Serail, 06.11.2016, Zürich

Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» wird im Opernhaus Zürich umgeschrieben.

Eigentlich ist das Personal von Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» überschaubar und klar gegliedert. Prinz Belmonte und seine Konstanze sind mitsamt ihren Dienern ­Pedrillo und Blonde Gefangene des Bassa (Pascha) Selim, der mit Osmin einen gewaltbereiten Oberaufseher seines Landhauses (Serails) hat. Belmonte und Pedrillo sind Tenöre, Konstanze und Blonde Soprane. Osmin ist ein Bass, während Bassa Selim eine Sprechpartie ist. So steht es auch auf der Besetzungsliste der Zürcher Aufführung.

Allerdings bleibt der Bassa, der durch einen Gnadenakt am Ende seine Gefangenen ziehen lässt und auf seine geliebte Konstanze verzichtet, in der Zürcher Aufführung stumm. Dafür übt er mit Pedrillo Schattenboxen und geht auch mal theatralisch zu Boden. ­Belmonte und Pedrillo gleichen einander aufs Haar, desgleichen Konstanze und Blonde. Die Oper wird zum – nicht nur heiteren – Personenraten.

Der schwule Moslem

Es ist nicht die einzige Absonderlichkeit dieser Fassung, die sich der deutsche Regisseur David Hermann hat einfallen lassen. Die gesprochenen Dialoge sind gestrichen und durch abstrakte «Soundcollagen» ersetzt, die manchmal wie ein Düsenflugzeug aus der Ferne tönen. Von Anfang an steht das Thema der Untreue in Liebesbeziehungen im Zentrum. «Man sagt, du seist die Geliebte des Bassa», sagt Belmonte noch während der Ouvertüre zu seiner Braut. Der Verdacht erhärtet sich. Osmin ist Oberkellner in einem Restaurant, in dem die vier jungen Leute gepflegt speisen wollen, bis sie sich entzweien. Konstanze wirft Belmonte ein Glas Wasser ins Gesicht, später tut Blonde mit ihrem Pedrillo dasselbe. Einmal aber erbarmt sich Blonde und holt Pedrillo ordentlich einen runter. Liebe wird auf Sex reduziert. Während die Identität der Personen bisweilen kaum erkennbar ist, sind unwichtige Details hyperrealistisch ausgeführt: Im Badezimmer der Konstanze fehlt nicht das Lavabo und der Handtuchtrockner (Bühne: Bettina Meyer).

Der sittenstrenge Muslim Osmin ist kein Kostverächter und geht im Suff dem Pedrillo buchstäblich an die Wäsche. Islamische Homosexualität – ein schweres Tabu und eine Provokation auf der Opernbühne! Später wird aus dem Oberkellner plötzlich ein blutrünstiger Janitschar in vollem Ornat inklusive Krummdolch. Die Standesunterschiede, im Original grundlegend für die Beziehungen der Personen untereinander, sind einge­ebnet; bisweilen scheinen die Paare in Gefangenschaft vergessen zu haben, wer zu wem gehört. Im Schlussakt muss Bassa Selim die richtige Frau zum richtigen Mann führen, damit alles wieder seine Ordnung hat.

Halbwegs bleibt durch diese willkürlichen Regietheater-Eingriffe das Stück noch erkennbar, aber es hagelte nach der Premiere Buhs für diese vom Wunsch, um jeden Preis anders zu sein, beherrschte Inszenierung.

Ein junges Ensemble

Zwei Dirigenten geben heute international den Takt in Sachen Mozart-Oper an: René Jacobs und Teodor ­Currentzis. Beide arbeiten mit Orchestern mit historischen Instrumenten und entsprechenden Spieltechniken. Currentzis war als musikalischer Leiter der Zürcher Produktion vorgesehen, doch sagte er aus gesundheitlichen Gründen ab. Für ihn stand sein Weg­gefährte Maxim Emelyanychev im ­Graben. Noch keine dreissig Jahre alt, hat er sich eine beachtliche Autorität angeeignet und führte das scharf und prägnant spielende Orchester La Scintilla (Barockformation des Opernhaus-Orchesters) mit straffer Hand. Noch nicht locker genug wirkte er in einigen Ensembleszenen, wo er die Bühne zugunsten des Orchesters vernachlässigte.

Olga Peretyatko, die gefeierte Petersburger Sopranistin, ist eine stimmlich mächtige, emotional bezwingende Konstanze, ihre junge Fachkollegin Claire de Sévigné singt noch mit schwankendem Glück die Blonde. Pavol Breslik ist ein stimmkräftiger Belmonte, Michael Laurenz ein beweglicher ­Pedrillo mit schöner Romanze im dritten Akt. Nahuel Di Pierro gibt mit klar zeichnendem, in der Tiefe etwas schmalem Bass den Osmin, als Bassa Selim schweigt beredt der Hüne Sam ­Louwyck.